VerfGH Berlin

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Zitieren als:
VerfGH Berlin, Beschluss vom 31.01.2003 - VerfGH 34/00 - asyl.net: M3882
https://www.asyl.net/rsdb/M3882
Leitsatz:

§ 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG ist insoweit einschränkend auszulegen, als eine Straftat des Ausländers nach dieser Vorschrift entfällt, wenn dieser zwar weder im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung noch einer Duldung ist, die Ausländerbehörde aber im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens über einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gegenüber dem Gericht die Zusicherung erteilt, die Abschiebung des Ausländers bis zu einer Entscheidung des Gerichts nicht zu vollziehen.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Türken, Familienzusammenführung, Aufenthaltserlaubnis, Ablehnung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Aussetzung der Abschiebung, Unerlaubter Aufenthalt, Strafbarkeit, Rechtsweggarantie
Normen: AuslG § 92 Abs. 1 Nr. 1; VvB Art. 15 Abs. 4 S. 1; VwGO § 80 Abs. 4; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Es ist verfassungsrechtlich geboten, § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG dahingehend einschränkend auszulegen, daß eine Strafbarkeit des Ausländers nach dieser Vorschrift entfällt, wenn der Ausländer zwar weder im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung noch einer Duldung ist, die Ausländerbehörde aber im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens die Zusicherung gegenüber dem Gericht erteilt, die Abschiebung des Beschwerdeführers bis zu einer Entscheidung des Gerichts nicht zu vollziehen.

Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes in Art. 15 Abs. 4 VvB folgt, daß der Rechtsschutz nicht durch Strafdrohungen unterlaufen werden darf. Der Betroffene muß zunächst Gelegenheit haben, einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO zu stellen, um durch eine gerichtliche Entscheidung noch vor Beginn der Vollziehung des Verwaltungsaktes deren Aussetzung erreichen zu können (Sauthoff NVwZ 1988, 697 698>; Aurnhammer a.a.O. S. 132; vgl. auch BVerwGE 16, 289 294>). Die Ausreisefrist gewährleistet im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes, daß der Ausländer wirksamen Rechtsschutz erlangen kann, indem er für die Dauer der Ausreisefrist vor der Illegalität bewahrt wird (Odenthal NStZ 1991, 418 419>; Welte, Praxishilfen Ausländerrecht, Gruppe I <Stand: Juni 2000>, Rn. 10/9; BVerwG, Urteil vom 22. Dezember 1997 - 1 C 14/96 - InfAuslR 1998, 217 218 f.>). Solange eine beantragte gerichtliche Entscheidung noch nicht ergangen ist, ist es wegen der einschneidenden Wirkung einer Abschiebung im Interesse effektiven Rechtsschutzes regelmäßig geboten, von der Vollstreckung abzusehen. Der Vollstreckungsschutz kraft Verfassungsrechts suspendiert zugleich den Einsatz strafrechtlicher Mittel. Es läge ein unhaltbarer Widerspruch darin, ein Verhalten strafrechtlich als Unrecht zu bewerten, das die Verfassung legitimiert (Aurnhammer a.a.O. S. 132 f.). Die in der Rechtsprechung zum Ausländerstrafrecht vertretene Auffassung, ein Ausländer sei ohne Rücksicht auf die Einlegung von Rechtsbehelfen gegen die ausländerbehördlichen Maßnahmen wegen unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet zu verurteilen, wenn der Verwaltungsakt vollziehbar sei und die Einlegung von Rechtsbehelfen daher keine aufschiebende Wirkung habe (so z. B. OLG Frankfurt, Urteil vom 21. August 1987 1 Ss 488/86 StV 1988, 301 302>; Kammergericht, Beschluß vom 15. Januar 1998 4 Ss 113/97 StV 1999, 95 96>), ist im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes jedenfalls insoweit verfassungsrechtlich bedenklich, als ohne Einschränkung eine Strafbarkeit im Hinblick auf den Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet während des gerichtlichen Eilverfahrens angenommen wird, selbst wenn der Ausländer innerhalb der ihm eingeräumten Ausreisefrist den Eilantrag stellt, eine gerichtliche Entscheidung jedoch nicht mehr innerhalb dieser Frist ergeht (vgl. auch Aurnhammer a.a.O. S. 132 f.; Wolf, StV 1988, 303; Rittstieg InfAuslR 1988, 17; Welte a.a.O. Rn. 10/8).

Für den vorliegenden Fall ist allerdings zu beachten, daß der Beschwerdeführer bereits vor dem 4. Januar 1996 hinreichend Gelegenheit zur Stellung eines vorläufigen Rechtsschutzantrages hatte. Der Beschwerdeführer hätte in der ihm gewährten einmonatigen Ausreisefrist, die mit der einmonatigen Widerspruchsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO zusammenfiel, neben dem von ihm bei der Ausländerbehörde eingelegten Widerspruch und anstelle des Antrages nach § 80 Abs. 4 VwGO sogleich beim Verwaltungsgericht einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen können.

Obwohl der Beschwerdeführer die Möglichkeit hatte, während der Ausreise- und Widerspruchsfrist unverzüglich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beim Verwaltungsgericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen, ist dennoch sein fortdauernder Aufenthalt für die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens unter Berücksichtigung von Art. 15 Abs. 4 VvB nicht strafbewehrt.

Allerdings läßt sich der vom Beschwerdeführer angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluß vom 4. Juni 1987 -1 BvR 620/87 - JW 1987, 2219) nicht entnehmen, daß von Verfassungs wegen ohne nähere Berücksichtigung der Umstände stets zu fordern ist, daß im Falle eines nicht offensichtlich unzulässigen oder rechtsmißbräuchlichen Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO die Behörde von Maßnahmen des Verwaltungszwanges abzusehen und damit korrespondierend eine strafrechtliche Ahndung des Betroffenen auszuscheiden hat. Wie dargelegt, muß grundsätzlich dem Ausländer im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes allein die Gelegenheit gegeben werden, im Rahmen der ihm eingeräumten Ausreisefrist vor dem Beginn der Vollstreckung Eilrechtsschutz zu erlangen. Sichert jedoch die Behörde gegenüber dem Gericht auf dessen Bitte für die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens zu, den Verwaltungsakt nicht zu vollziehen, ergeben sich hieraus in verfassungsrechtlicher Hinsicht Folgen für die Auslegung der Strafvorschrift des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG, auch wenn es der Ausländer unterlassen hat, bereits im Rahmen der nicht strafbewehrten Ausreisefrist den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu stellen. Unmaßgeblich ist in diesem Zusammenhang, daß es bei der Ausgestaltung des deutschen Verwaltungsprozeßrechts und den verfassungsrechtlichen Garantien eines gehörigen Verfahrens keine prinzipielle Verkürzung des effektiven Rechtsschutzes darstellt, wenn ein Betroffener darauf verwiesen ist, seinen Rechtsschutz durch deutsche Gerichte vom Ausland her zu betreiben (Beschlüsse vom 28. Juni 2001 VerfGH 79/00, 79 A/00 und vom 21. Februar 2002 VerfGH 71/01, 71 A/01 ). Denn jedenfalls befand sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Eilantragstellung noch im Bundesgebiet. Auch wenn der Betroffene den Antrag nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt stellt, ändert dies nichts daran, daß die Garantie der Gewährung effektiven Rechtsschutzes es gebietet, daß eine gerichtliche Entscheidung ergeht, bevor bis dahin noch nicht vollzogene Maßnahmen -hier in Gestalt der Abschiebung - doch noch zwangsweise durchgesetzt werden. Hätte das Landeseinwohneramt keine Zusicherung erteilt, wäre das Gericht daher zu einer umgehenden Entscheidung - ggf. im Wege einer Zwischenentscheidung in Anwendung des § 80 Abs. 8 VwGO -verpflichtet gewesen. Damit erfolgte die auf die Bitte des Verwaltungsgerichts erteilte Zusicherung nicht nur zu dem Zweck, dem Verwaltungsgericht ausreichend Zeit für eine Eilentscheidung zu belassen. Daneben hatte sie die Funktion, dem Beschwerdeführer für die Dauer des Eilverfahrens die Verfolgung seines Rechtsschutzes vom Bundesgebiet aus zu ermöglichen. Wird der Aufenthalt eines Ausländers bis zur Entscheidung über seinen Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO durch Zwangsmaßnahmen nicht beendet, um dem Ausländer im Interesse effektiven Rechtsschutzes die Möglichkeit zu geben, sich weiter im Bundesgebiet aufzuhalten, muß eine Strafbarkeit aber entfallen (vgl. Wolf StV 1988, 303; Welte a.a.O. Rn. 10/8; Rittstieg InfAuslR 1988, 17; Odenthal NStZ 1991, 418 421>). Wäre der Betroffene hingegen zur Vermeidung einer strafrechtlichen Ahndung gezwungen, der bestehenden Ausreisepflicht nachzukommen, würde dies den vom Gericht verfolgten und mit der Einholung der Zusicherung erreichten Zweck, den Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet bis zu einer Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu sichern, unterlaufen.