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OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 03.07.2003 - A 1 B 115/00 - asyl.net: M3941
https://www.asyl.net/rsdb/M3941
Leitsatz:

Tamilen sind in Sri Lanka vor politischer Gruppenverfolgung wegen ihrer Volkszugehörigkeit hinreichend sicher.(Amtlicher Leitsatz)

 

Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, interne Fluchtalternative, Colombo, LTTE, Waffenstillstand, Sippenhaft, Inhaftierung, Zwangsrekrutierung
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

[...]

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 Satz 1 GG. [...]

1.1. Der Kläger war vor seiner Ausreise nicht individuell politisch verfolgt. Für eine individuelle politische Verfolgung in seinem Heimatort im Nordosten Sri Lankas hat er schon nichts vorgetragen. [...]

Ob er wie angegeben inhaftiert war, kann dahin stehen. Denn diese wären angesichts der damaligen extrem angespannten Sicherheitslage an sich nicht asylrelevant. [...]

1.2. Ob der Kläger vor seiner Ausreise regionaler oder landesweiter politischer Gruppenverfolgung ausgesetzt war, lässt der Senat offen. Dem Kläger droht bei seiner Rückkehr nämlich jedenfalls deshalb keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG, weil ihm solche Verfolgungsmaßnahmen nicht nur nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, sondern solche Maßnahmen hinreichend sicher ausgeschlossen werden können.

1.2.1 Eine landesweite oder regionale, unmittelbare oder mittelbare staatliche Gruppenverfolgung von Tamilen findet in Sri Lanka nicht statt. Allerdings ist der 1983 begonnene Bürgerkrieg zwischen den srilankischen Regierungstruppen und der LTTE nach wie vor nicht offiziell beendet. Die Regierung kämpfte zunächst weiterhin um die Rückeroberung der von der LTTE kontrollierten Gebiete im Norden und Osten des Landes, wobei sie betonte, dass sich ihr Kampf nicht gegen die tamilische Bevölkerung, sondern gegen die LTTE richte (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 28.4.2000 und 11.3.2001). Die LTTE konnte im November 1999 und im April 2000 erhebliche Geländegewinne für sich verbuchen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.10.2001). In den von ihr kontrollierten Gebieten betreibt die LTTE eine staatsähnliche Verwaltung (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 6.9.2002). Im Dezember 2000 rief die LTTE einen einseitigen Waffenstillstand aus und sagte die Aussetzung der Anschläge in Colombo zu. Dieser Waffenstillstand wurde am 24.4.2001 jedoch wieder aufgekündigt. Danach kam es vom 25. bis 28.4.2001 zu einer militärischen Offensive der Regierungstruppen, die in deren Niederlage endete. In Colombo wurden zunächst keine schweren Attentate verübt, bis es am 24.7.2001 zu einem verheerenden Anschlag der LTTE auf den Luftwaffenstützpunkt bei Colombo und den angrenzenden (einzigen) internationalen Flughafen Sri Lankas kam, bei dem acht Militärmaschinen und vier zivile Flugzeuge zerstört wurden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.10.2001). Am 29.10.2001 wurden bei einem Selbstmordanschlag der LTTE in Colombo am Rande einer Wahlkampfveranstaltung des damaligen Premierministers zwei Menschen getötet und 13 weitere verletzt. Die im Februar 2000 begonnene norwegische Friedensinitiative kam daraufhin und wegen innenpolitischer Probleme in Sri Lanka praktisch zum Stillstand. Nach den Neuwahlen am 5.12.2001, bei denen die bisherige Oppositionspartei UNP, zu Wahlkampfzwecken zur United National Front (UNF) erweitert, den Sieg errang, und dem Amtsantritt der neuen Regierung unter Premierminister Ranil Wickremesinghe am 12.12.2001 wurden die Friedensbemühungen wieder aufgenommen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 6.9.2002; Keller-Kirchhoff, Gutachten vom 17.4.2002). Diese Regierung betrachtet den Dialog mit den Tamilen als ihr wichtigstes Projekt (FAZ vom 5.9.2002). Die Friedensbemühungen werden befördert durch den starken Druck v.a. der USA auf die LTTE, die im Zusammenhang mit dem von den USA angeführten Kampf gegen den internationalen Terrorismus zum Einlenken aufgefordert werden (Keller-Kirchhoff, Gutachten vom 17.4.2002). Am 24.12.2001 trat eine von der LTTE erklärte Waffenruhe in Kraft, der sich die Regierung anschloss. Am 15.1.2002 wurde das Wirtschaftsembargo gegen die von der LTTE kontrollierten Gebiete weitgehend aufgehoben. In der Nacht vom 22. auf den 23.2.2002 trat ein Waffenstillstandsabkommen zwischen der Regierung und der LTTE in Kraft, das unter anderem einen beidseitigen unbefristeten Waffenstillstand, eine Reihe von vertrauensbildenden Maßnahmen auf beiden Seiten und Erleichterungen für die Bevölkerung in den Gebieten unter der Kontrolle der LTTE vorsieht (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 6.9.2002). Im September 2002 wurde das seit vier Jahren bestehende Verbot der LTTE aufgehoben (FAZ vom 5.9.2002). Am 16.9.2002 begannen die Friedensgespräche zwischen der srilankischen Regierung und der LTTE, zu deren Beginn die LTTE den Verzicht auf die Forderung nach einem eigenen tamilischen Staat bekanntgab (NZZ vom 19.9.2002). Mit Ausnahme einiger Zwischenfälle hält der vereinbarte Waffenstillstand an (NZZ vom 23.11.2002; NZZ vom 6.12.2002; FAZ vom 9.12.2002). In der dritten Runde der Verhandlungen einigten sich die Parteien Anfang Dezember 2002 auf eine gemeinsame Deklaration, nach der nach Möglichkeiten einer auf interner Selbstbestimmung beruhenden föderalen Struktur des Staates gesucht werden soll (NZZ vom 6.12.2002). Nach erfolgreichem Abschluss der vierten Verhandlungsrunde im Januar 2003, in dem auch eine Einigung über die Rücksiedlung von Flüchtlingen getroffen wurde, wurden die Verhandlungen in weiteren Runden fortgesetzt, Mitte März 2003 fand die sechste Runde statt, obwohl es zuvor zu Zwischenfällen gekommen war (NZZ vom 10.1.2003, 22.2.2003 und 18.3.2003). Allerdings hat die LTTE ihre Teilnahme an der 7. Gesprächsrunde, die Ende April 2003 stattfinden sollte, abgesagt. Anlass war neben mehreren gewaltsamen Zwischenfällen zwischen den Regierungstruppen und der LTTE deren Ausschluss von einem internationalen Sri Lanka-Treffen, das in den USA stattfand. Die USA und Indien hatten darauf bestanden, dass Vertreter der LTTE nicht teilnahmen, weil Washington keinen offiziellen Kontakt zu terroristischen Organisationen haben dürfe. Dies empfand die LTTE als einen Schlag ins Gesicht, hält aber an ihrer Zusage für eine politische Lösung fest (NZZ vom 23.4.2003).

Die Menschenrechtslage hat sich verbessert, gleichwohl kommt es nach wie vor zu schweren Menschenrechtsverletzungen wie Folter, extralegalen Tötungen, "Verschwindenlassen" und überlange Untersuchungshaft (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 6.9.2002).

Vor diesem Hintergrund findet eine staatliche Verfolgung von Tamilen allein aus ethnischen Gründen in Sri Lanka weder landesweit noch regional begrenzt statt. Bereits nach der Rechtsprechung des vormals zuständigen 4. Senates des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. nur Beschl. v. 5.7.2001 - A 4 B 736/00 v. 29.6.2001 - A 4 B 409/00 - jeweils m.w.N.) hatten weder Angehörige der tamilischen Minderheit allgemein, noch die Angehörigen der Teilgruppe jüngerer tamilischer Männer wegen ihrer Volkszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in Sri Lanka zu befürchten. Die Auffassung trifft angesichts der seit über einem Jahr andauernden Waffenruhe und den Friedensgesprächen zwischen der srilankischen Regierung und der LTTE gegenwärtig um so mehr und nunmehr auch nach dem herabgesetzten Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu.

Kampfhandlungen der srilankischen Regierungstruppen in dauerhaft oder zeitweilig von der LTTE gehaltenen Gebieten finden seit mehr als einem Jahr nicht mehr statt. Schon zuvor waren die Gewaltakte der Regierungstruppen nicht als politische Verfolgungsmaßnahmen gegen die tamilische Bevölkerung zu werten (vgl. z.B. nur VGH Bad.-Württ - A 6 S 1888/00 - ). Anhaltspunkte dafür, dass die srilankischen Truppen im Falle eines Scheiterns der Friedensverhandlungen und eines Wiederauflebens der gewaltsamen Auseinandersetzungen dazu übergehen könnten, ihre militärischen Aktionen über die mit einer Bürgerkriegssituation zwangsläufig einhergehenden Beeinträchtigungen der Zivilbevölkerung hinaus auf eine physische Vernichtung oder weitergehende schwerwiegende Beeinträchtigung der tamilischen Bevölkerung in den Kampfgebieten zu richten (vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, Beschl. v. 10.7.1989, BVerfGE 80, 315, 340), bestehen nicht. [...]

Eine ethnisch diskriminierende Gesetzgebung existiert in Sri Lanka ebenfalls nicht. [...]

Nach allem sind die Maßnahmen, denen die Tamilen in den staatlich kontrollierten Gebieten nach wie vor ausgesetzt sind, nicht als politische Verfolgung zu werten, sondern angesichts der schweren terroristischen Anschläge in der Vergangenheit legitime Maßnahmen staatlicher Kriminalitätsverfolgung und -prävention. Anhaltspunkte dafür, dass die Gruppe der Tamilen insgesamt oder eine Untergruppe, der der Kläger zugehört, im Zuge solcher Maßnahmen asylrelevante Maßnahmen zu befürchten hat, bestehen nicht. Soweit es nach wie vor zum "Verschwindenlassen" von Personen und zu Folterungen und Misshandlungen durch staatliche Stellen kommt (vgl. ai, Jahresbericht 2002, S 515 1.), kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Gefahrenlage für alle oder für jüngere Tamilen besteht oder sich abzeichnet (SächsOVG, Beschl. v. 5.72001 - A 4 B 736/00 - und Beschl. v. 29.6.2001 - A 4 B 409/00 -). Zwar mögen wegen des Terrorismus verdächtige Personen im Falle ihrer Verhaftung nach wie vor menschenrechtswidrige Behandlung befürchten müssen, doch abgesehen von der Frage, ob solche Behandlungen dem srilankischen Staat zuzurechnen sind (dagegen z.B. SächsOVG, Urt. v. 25.1.2000, SächsVBl. 2000, 164, 167 f.), hat der Kläger eine solche Verhaftung nicht zu befürchten. Dies gilt selbst dann, wenn er - wie von ihm behauptet - vor seiner Ausreise aus Sri Lanka wegen des Verdachts der Unterstützung von LTTE-Aktivitäten inhaftiert worden wäre. Denn auch Tamilen, die bereits früher wegen eines solchen Verdacht verhaftet waren, haben inzwischen weder in verstärktem Maße eine erneute Verhaftung, noch eine verstärkte polizeiliche Beobachtung oder Überprüfung zu befürchten (Gutachten des Sachverständigen Keller-Kirchhoff an das VG Arnsberg vom 27.1.2003). [...]

Dem Kläger droht auch keine (Gruppen-)Verfolgung durch die LTTE. Allerdings wurden von der LTTE gegen politisch anders Denkende Folterungen, Hinrichtungen, Tötung von "Kriegsgefangenen" und Zivilisten sowie andere schwere Gewalttaten, Entführungen zu Lösegelderpressungen, Festnahmen, Zwangsrekrutierungen und Tötungen tamilischer Politiker konkurrierender Gruppen begangen (Süddeutsche Zeitung vom 16.6.2003). Der Trend zu Zwangsrekrutierungen hat sich auch nach Abschluss des Waffenstillstandsabkommens vom 23.2.2002 fortgesetzt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 6.9.2002). Dabei soll es nach wie vor auch zur Zwangsrekrutierung von Kindern kommen (FR vom 21.1.2003). Zwangsmaßnahmen der LTTE sind jedoch dem srilankischen Staat nicht zuzurechnen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20.3.1998 - A 16 S 60/97 u.a. m.w.N.). Soweit die LTTE in den von ihr kontrollierten Gebieten quasi-staatliche Macht ausüben sollte (vgl. NZZ vom 23.4.2003; zu den Voraussetzungen vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.8.2000, NVwZ 2000, 1165, 1166€), mögen ihr zurechenbare menschenrechtswidrige Maßnahmen zwar politische Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG darstellen. Es ist aber nicht ersichtlich, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr von ihnen betroffen sein könnte. Anhaltspunkte dafür, dass er in Gegnerschaft zur LTTE steht oder von ihr als ein Gegner angesehen werden könnte, liegen nicht vor. Dagegen spricht auch schon, dass er mit Genehmigung der LTTE ausgereist ist und von ihr einen Pass ausgestellt erhielt. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass der Kläger als Rückkehrer Zwangsrekrutierungsmaßnahmen ausgesetzt wäre. Hinweise darauf, dass die Gruppe der rückkehrenden Flüchtlinge aus anderen Teilen Sri Lankas oder aus dem Ausland solchen Maßnahmen ausgesetzt wären, finden sich weder in Lageberichten des Auswärtigen Amtes, noch in anderen Erkenntnisquellen. Fänden solche Rekrutierungen statt, wäre mit ihrer Erwähnung aber zu rechnen gewesen, zumal in den letzten Monaten zahlreiche Flüchtlinge in die von der LTTE kontrollierten Gebiete zurückgekehrt sind (vgl. FR vom 20.7.2002 und vom 3.2.2003, Die Welt vom 27.11.2002, Keller-Kirchhoff, Gutachten vom 18.11.2002). Da mithin davon auszugehen ist, dass zurückkehrenden Tamilen solche Maßnahmen nicht drohen, kann auch hier offen bleiben, ob und ggf. mit welchen Sanktionen die LTTE - vorausgesetzt es handle sich bei ihr um eine quasi-staatliche Macht wie ein freiheitlich regierter Staat das Recht hat, ihre "Bürger" zum Waffendienst zu verpflichten.

Darüber hinaus drohte dem Kläger - selbst bei Verfolgung durch die LTTE - im Falle seiner Rückkehr nach Sri Lanka keine politische Verfolgung, weil ihm in den von dem srilankischen Staat kontrollierten Gebieten, insbesondere im Großraum Colombo, eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. Eine inländische Fluchtalternative setzt neben der - hier wie aufgezeigt vorhandenen - hinreichenden Sicherheit vor politischer Verfolgung voraus, dass der Flüchtling in den in Betracht kommenden Gebieten auch keine anderen Gefahren und Nachteile befürchten muss, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde. Dabei liegt eine solche Gefährdung auch dann vor, wenn das wirtschaftliche Existenzminimum in Frage steht (BVerfG, Beschl. v. 10.7.1989, BVerfGE 80, 315, 343 f.; Urt. v. 20.11.1990, BVerGE 87, 141, 148 f.; BVerwG, Urt. v. 15.5.1990, BVerwGE 85, 139, 147 f.). Für die Annahme einer existentiellen Gefährdung reicht deren bloße Möglichkeit allerdings nicht aus; vielmehr ist erforderlich, dass das Gericht nach seiner Überzeugung die Gefahr nicht sicher ausschließen kann, dass der Zurückkehrende eine Leben führen muss, das zu einer verfolgungsunabhängigen Verelendung führt (BVerwG, Urt. v. 6.10.1987, EZAR 203 Nr. 4). Dies ist jedoch hier auszuschließen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6.9.2002 besitzen Rückkehrer, die nicht aus Colombo stammen, zwar keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung für ein Leben in Colombo, sondern werden auf eine Wohnsitznahme in ihren Heimatgebieten hingewiesen. Häufig gelingt es den zahlreichen aus westlichen Staaten zurückkehrenden Asylbewerbern jedoch, in Colombo Arbeit zu finden, alternativ steht ihnen (einfache) Unterkunft und Verpflegung in einem Flüchtlingslager zur Verfügung.

1.2.2. Der Kläger ist auch vor politischer Verfolgung aus individuellen Gründen hinreichend sicher. Von der Gefahr einer länger andauernden Inhaftierung wegen der Mitgliedschaft seines Bruders in der LTTE ist nicht auszugehen. Eine Festnahme mit dem Ziel, dass sich verwandte LTTE-Kämpfer den staatlichen Sicherheitskräften ergeben - eine in der Vergangenheit praktizierte Taktik - ist nicht zu befürchten, weil der Bruder des Klägers bereits verstorben ist. [...]