VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 10.07.2003 - 3 E 31074/98.A - asyl.net: M4009
https://www.asyl.net/rsdb/M4009
Leitsatz:

Weibliche Genitalverstümmelung in Sierra Leone keine politische Verfolgung; keine beachtliche Gefahr der weiblichen Genitalverstümmelung bei Rückkehr der Familie nach Freetown und höherem Bildungsstand der Eltern.(Leitsatz der Redaktion

Schlagwörter: Sierra Leone, Tamaboro, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Kamajors, Politische Entwicklung, Friedensabkommen, Machtwechsel, Flüchtlingsfrauen, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Genitalverstümmelung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Menschenrechtswidrige Behandlung, Krankheit, Paranoide Psychose, Psychische Erkrankung, Medizinische Versorgung, Auswärtiges Amt, Auskünfte, Verwertbarkeit
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Die Kläger erfüllen nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) nicht die Voraussetzungen als politisch Verfolgte im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG, so dass die Beklagte nicht verpflichtet ist, sie als Asylberechtigte anzuerkennen.

Dabei ist für die Kläger davon auszugehen, dass sie Sierra Leone unverfolgt verlassen haben. Denn die von den Klägern, insbesondere dem Kläger zu 1), geschilderte drohende Verfolgung durch die Kamajors stellte zum Zeitpunkt des Verlassens Sierra Leones keine "politische" Verfolgung dar. "Politische", also staatliche Verfolgung konnte nach dem Putsch und der Machtübernahme durch Major Koroma am 25.05.1997 und der Verschmelzung von Armee und RUF zur Volksarmee (vgl. Afrika-Jahrbuch 1997 S. 167) zum Zeitpunkt der Flucht im Dezember 1997 nur durch diese Kräfte verübt werden, nicht aber von den die Volksarmee bekämpfenden (a.a.O. S. 168) Kamajors.

In Anwendung dieser rechtlichen Maßstäbe und unter Würdigung des Vorbringens der Beteiligten kann das Gericht eine den Klägern bei Rückkehr in ihre Heimat drohende politische Verfolgung nicht feststellen. Dies beruht auf folgenden Erwägungen ...

Die aufgezeigte Entwicklung in Sierra Leone verdeutlicht die klare Tendenz zur Festigung des Friedens. Die Einhaltung des Abkommens von Abuja durch die Bürgerkriegsparteien, die Wiederwahl Kabbahs und das schlechte Abschneiden der RUF bei den Wahlen im Mai 2002 sind ebenso wie die Arbeitsaufnahme durch den Sondergerichtshof für Kriegsverbrechen Indizien dafür, dass das Land weitgehend zur Ruhe gekommen ist und sich die allgemeine Lage verfestigt.

Nach alledem ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass ein sierra-leonischer Staatsangehöriger bei Rückkehr in sein Heimatland zum jetzigen Zeitpunkt und auf absehbare Zeit staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein wird.

Der von den Klägern hilfsweise beantragten Beweiserhebung zu der Frage, ob ehemalige Unterstützter der Tamaboros bei einer Rückkehr auch heute noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung von der Regierung zu befürchten hätten, brauchte das Gericht deshalb wegen Erwiesenheit des Gegenteils (§ 244 Abs. 4 StPO) - wie die zahlreichen Erkenntnisse belegen - nicht nachzugehen.

Dass den Klägerinnen zu 2) und 3) bei einer Rückkehr nach Sierra Leone aus in ihren Personen liegenden Gründen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen könnte, ist nicht ersichtlich.

Soweit die Klägerinnen zu 4) und 5) bei einer Rückkehr nach Sierra Leone politische Verfolgung in Gestalt drohender Beschneidung befürchten, mangelt es bereits - wie in anderem Zusammenhang noch auszuführen sein wird - an einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit der befürchteten Verfolgung.

Unabhängig davon fehlt es am Merkmal der "politischen" Verfolgung, da dies voraussetzt, dass dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielte Rechtsverletzungen zugefügt werden, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10.07.1989 - a. a. O., S. 335). Dabei ist die Frage der Ausgrenzung nach den soziokulturellen Vorstellungen in dem betreffenden Staat bzw. in der betreffenden Gemeinschaft zu beurteilen und nicht auf der Grundlage mitteleuropäischer Vorstellungen. Aus der Sicht der im Herkunftsland Sierra Leone bestehenden kulturellen Gemeinschaft kann von einer ausgrenzenden Verfolgung schon deswegen keine Rede sein, weil die von den Klägerinnen zu 4) und 5) befürchtete zwangsweise Beschneidung, die ihre Wurzeln in animistischen Initiationsriten hat, gerade den Zweck verfolgt, das betreffende Mädchen in den Kreis der Frauen der Gemeinschaft als vollwertiges Mitglied aufzunehmen. Das Institut für Afrika-Kunde hat in seinem Gutachten vom 10.04.2002 dargelegt, dass die Beschneidung tief in der afrikanischen Tradition verwurzelt ist und von vielen Menschen in den betreffenden Ländern als integraler, lebenswichtiger Bestandteil der Kultur angesehen wird, der nicht ohne weiteres aufgegeben werden darf. In Sierra Leone ist diese Tradition anscheinend bei allen Bevölkerungsgruppen mit Ausnahme der Krio lebendig. Die Krio selbst haben keine jahrhunderte alte afrikanische Tradition, da ihre Vorfahren als ehemalige Sklaven erst vor relativ kurzer Zeit aus anderen Teilen der Welt im Großraum Freetown angesiedelt wurden. Auswirkung der Tradition in den Bevölkerungsgruppen, die die Beschneidung praktizieren, ist das Paradoxon, dass trotz der mit der Beschneidung verbundenen Leiden angeblich auch 3/4 der davon qua Geschlecht betroffenen Frauen zu den Befürwortern zählen. Dies ist nur durch die große Macht erklärbar, die Tradition und traditionelle Kultur im Bewusstsein der Menschen haben. Auch dies belegt, dass hier kein Raum für die Annahme gegeben ist, dass aus der Sicht der in Sierra Leone bestehenden kulturellen Gemeinschaft mit der Durchführung von Beschneidungsmaßnahmen beabsichtigt ist, die betreffenden Mädchen und Frauen aus der Friedensordnung der Gemeinschaft auszugrenzen (vgl. auch VG Ansbach, Urteil vom 4.12.2001 - Asylmagazin 2002, 35).

Aus den obigen Darlegungen ergibt sich zugleich, dass zugunsten der Kläger auch kein Abschiebungsverbot im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG besteht.

Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG i. V. m. Art. 3 EMRK steht den Klägerinnen zu 4) und 5) auch unter dem Gesichtspunkt, dass ihnen bei Rückkehr nach Sierra Leone eine Beschneidung drohen könnte, nicht zu.

Es fehlt bei den Klägerinnen zu 4) und 5) an der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" einer drohenden Beschneidung. Das Institut für Afrika-Kunde hat in seinem Gutachten vom 10.04.2002 auf Anfrage des Gerichts ausgeführt, dass der Vergleich verschiedener Quellen zu Sierra Leone zeige, dass die weibliche Bevölkerung dieses westafrikanischen Landes mindestens zu 80% beschnitten ist. Andererseits hat das Institut für Afrika-Kunde in seinem Gutachten ausgeführt, dass hinsichtlich der Anwendung der Beschneidung in Sierra Leone anscheinend regionale und ethnische Unterschiede bestehen. Indizien weisen darauf hin, dass Unterschiede einerseits zwischen der Gruppe der Krio und den übrigen ethnischen Gruppen, andererseits zwischen Stadt und Land bzw. zwischen Freetown und dem Rest des Landes liegen. Als Faustregel dürfe gelten, dass FGM (Female Genital Mutilation - weibliche Genitalverstümmelung) bzw. die Akzeptanz von FGM umso wahrscheinlicher ist, je ländlicher, je geringer gebildet und je stärker verwurzelt in der afrikanischen Tradition betreffende Personen und Personenkreise sind. Bildung, höherer sozialer Status und/oder städtische Lebensweise dürften die Inzidenz und Akzeptanz von FGM deutlich verringern. Die Frage der Religionszugehörigkeit kann im Einzelfall Bedeutung haben (z. B. die Berufung auf das Christentum), sie ist aber anscheinend nicht grundsätzlich ausschlaggebend für die Frage, ob FGM praktiziert oder akzeptiert wird oder nicht. Einfache Gleichsetzungen wie Islam = FGM oder traditional-afrikanische Religion (vor allem Ahnenkult) = FGM oder Christentum = Immunität gegen FGM scheinen nicht berechtigt zu sein. Darüber hinaus hat das Institut für Afrika-Kunde in dem angegebenen Gutachten ausgeführt, dass Bildung/Ausbildung und FGM - Abneigung der Eltern einen Einfluss auf die Anwendungswahrscheinlichkeit von FGM haben dürften. Diese Aussage würde sich allerdings relativieren, wenn die Familie gezwungen wäre, unter den Bedingungen der Tradition und der traditionellen Kultur zu leben.

Vor diesem Hintergrund lässt sich für die Klägerinnen zu 4) und 5), die mit ihren Eltern nach Freetown zurückkehren können, wo sie geboren sind und wo ihre Eltern über lange Jahre gelebt haben, keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer drohenden Beschneidung feststellen. Denn neben der Rückkehr in eine nicht ländlich geprägte Umgebung sind als weitere, die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Beschneidung reduzierende Umstände als ganz wesentlich zu berücksichtigen, dass der Kläger zu 1) als Vater studierter Geologe und die Klägerin zu 2) als Mutter ausgebildete Krankenschwester ist, beide Elternteile also eine die durchschnittliche Bildung in Sierra Leone weit übersteigende Ausbildung genossen haben und aufgrund ihres christlichen Glaubens die Beschneidung ihrer Tochter entschieden ablehnen, weil sie dies - wie der Kläger zu 1) im Termin am 10.07.2003 darstellte - für unfair einem Kind gegenüber halten.

Zwar hat der Kläger zu 1) im Termin vom 10.07.2003 zugleich ausgeführt, dass es in seinem Heimatland - Sierra Leone - nicht wie in Deutschland sei, dass man seinen Kindern einfach sagen könne, dass das Kind nicht zu seiner Verwandtschaft gehe. Es entspreche einfach der dortigen kulturellen Praxis, ohne dass dies etwas mit Christentum oder Bildung zu tun habe, dass die Kinder der ganzen Familie gehörten.

Gerade vor dem Hintergrund, dass das Institut für Afrika-Kunde in seinem Gutachten vom 10.04.2002 darstellte, dass keineswegs eine vollständige - im Sinne einer hundertprozentigen - Beschneidung von Mädchen und jungen Frauen in Sierra Leone stattfindet, erachtet das Gericht die Angaben des Klägers zu 1), die Beschneidung der Klägerinnen zu 4) und 5) nicht verhindern zu können und als unausweichlich hinzustellen, für von taktischen Überlegungen geprägt und deshalb nicht für vollständig glaubhaft.

Auf der Grundlage des Gutachtens des Instituts für Afrika-Kunde vom 10.04.2002 leben in Sierra Leone 10 bis 20% Frauen, die nicht beschnitten sind und auch nicht der Ethnie der Krio angehören, da diese lediglich 2% der Bevölkerung in Sierra Leone ausmacht, wie das Institut für Afrika-Kunde in seinem Gutachten ausgeführt hat. Nach den Ausführungen des Instituts für Afrika-Kunde, wie sie oben bereits dargelegt wurden, sinkt die Wahrscheinlichkeit weiblicher Beschneidung bei höherer Bildung, bei einer Wohnsitznahme in Freetown und bei einer fehlenden Verwurzelung in der afrikanischen Tradition. Da die Kläger bei sämtlichen dieser drei aufgezählten Kriterien zu der Gruppe gehören, bei der weibliche Beschneidung weniger wahrscheinlich stattfindet, kommt das erkennende Gericht insgesamt zu dem Schluss, dass eine drohende Beschneidung der Klägerinnen zu 4) und 5) nicht hinreichend wahrscheinlich ist.

Aus den obigen Darlegungen ergibt sich zugleich, dass den Klägerinnen zu 4) und 5) auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 AuslG drohen, da - wie ausgeführt - der Begriff der "Gefahr" der gleiche ist.

Auch die Klägerin zu 2) kann sich auf ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht berufen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin zu 2) mit beachtlicher Wahrscheilichkeit im Fall ihrer Rückkehr nach Sierra Leone eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahrdung im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu erwarten hat.

Die Klägerin leidet ausweislich des vom Gericht eingeholten Gutachtens des Sachverständigen vom 29.04.2002 (Bl. 138 ff der Akte) unter einer im Vordergrund stehenden paranoiden Psychose.

Nach der in anderer Sache vom erkennenden Gericht eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 18. April 2002 (Bl. 149 der Akte) und der auf Betreiben der Kläger eingeholten ergänzenden Auskunft vom 25. November 2002 (Bl. 203 f der Akte) gibt es in Freetown ein psychiatrisches Krankenhaus, in dem die meisten psychischen Krankheiten behandelt werden können.

Das erkennende Gericht hat keinen Zweifel daran, dass auch die bei der Klägerin zu 2) festgestellte paranoide Psychose in diesem Krankenhaus - Kissi Mental Hospital - behandelt werden kann. Zwar haben die Kläger mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 01. August 2002 vorgetragen, dass aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes schon rein logisch nicht geschlossen werden könne, dass auch die komplexe psychotische Krankheit der Klägerin zu 2) dort behandelt werden könne. Diese Auffassung wird vom erkennenden Gericht jedoch nicht geteilt. Doktor Nahim, der das Kissi Mental Hospital in Freetown leitet, ist Psychiater - ebenso wie der vom Gericht beauftragte Arzt für Psychiatrie, Herr Li, und deshalb befähigt, die Klägerin zu 2) zu behandeln. Das Gericht will in diesem Zusammenhang gerade im Hinblick auf die von den Klägern zu den Akten gereichten Stellungnahmen von Dr. Nahim vom 08. August 2002 (Bl. 192 der Akte) und von der Botschaft der Republik von Sierra Leone vom 12.08.2002 (Bl. 193 der Akte) nicht in Abrede stellen, dass sich (auch) das Kissi Mental Hospital in einer schwierigen Situation befindet, soweit es die personelle und sachliche Ausstattung betrifft. Andererseits lässt sich mit der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 25. November 2002 nicht von der Hand weisen, dass die Darstellung von Dr. Nahim in seiner Stellungnahme vom 15. März 2002 an das Gesundheitsministerium in Sierra Leone - welches augenscheinlich von dort an die zuständige Botschaft der Bundesrepublik Deutschland weitergeleitet wurde, - und die Darstellung von Dr. Nahim in seiner Stellungnahme vom 08. August 2002 nicht der tatsächlichen Entwicklung entspricht, da sich die Situation in Freetown in diesem Zeitraum nicht verschlechtert, sondern verbessert hat.

Soweit die Kläger der Auffassung sind, dass die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 18. April 2002 durch das weitere Schreiben von Dr. Nahim vom 08. August 2002 zumindest als erschüttert gelten dürfe, so dass nicht mit der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 18. April 2002 davon ausgegangen werden dürfe, dass die psychische Erkrankung der Klägerin zu 2) in Sierra Leone behandelt werden könne, vermag dem das erkennende Gericht nicht zu folgen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 22.01.1985 -InfAuslR 1985, 147 (148)) brauchen amtliche Auskünfte des Auswärtigen Amtes in Asylsachen grundsätzlich die ihnen zugrundeliegenden Informationsquellen nicht zu enthalten. Sie sind auch ohne diesbezügliche Angaben verwertbar. Deshalb ist nach Auffassung des Gerichts die zeitlich spätere Stellungnahme von Dr. Nahim vom 08.08.2002, die die Kläger dem Gericht zugeleitet haben, nicht geeignet, die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 18. April 2002 zu erschüttern. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Information von Dr. Nahim in seinem Schreiben vom 15. März 2002 nicht an die zuständige Botschaft der Bundesrepublik Deutschland gerichtet war; ob sie demgemäss die alleinige Informationsquelle war, kann deshalb dahinstehen.