VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 22.08.2003 - 2 B 308/03 - asyl.net: M4049
https://www.asyl.net/rsdb/M4049
Leitsatz:

Die Kürzung von Leistungen wegen fehlender Arbeitsbemühungen nach § 5 Abs. 4 AsylbLG setzt eine Ermessensbetätigung der Behörde voraus. Eine "Kürzung auf Null" darf nicht auf unbestimmte Zeit erfolgen; die Behörde hat - entsprechend den Regelungen im BSHG - den Hilfefall "unter Kontrolle zu halten" und spätestens drei Monate nach Beginn der 100% Kürzung der Leistungen erneut eine Entscheidung zu treffen.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Duldung, Abschiebungshindernis, Vertretenmüssen, Passersatzpapiere, Passbeschaffung, Mitwirkungspflichten, Gemeinnützige Arbeit, Leistungskürzung, Leistungseinstellung, Ermessen, Verfassungsmäßigkeit, Arbeitsgelegenheit, Zumutbarkeit, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung
Normen: AsylbLG § 5 Abs. 4; VwGO § 123; AsylbLG § 1a Nr. 2; BSHG § 25 Abs. 3
Auszüge:

Die Absenkung der Leistungen nach § 1 a Nr. 2 AsylbLG auf das unabweisbar gebotene Maß hat zu erfolgen, wenn gegenüber einem Leistungsberechtigten aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können. Dieser Tatbestand liegt u.a. in Fällen sog. verschuldeter Passlosigkeit vor, also immer dann, wenn die Beschaffung von Nationalpässen oder Passersatzpapieren aufgrund von Umständen, die in der Verantwortungssphäre des Ausländers liegen, scheitert oder verzögert wird. Im vorliegenden Fall verfügen die Antragsteller zwar nicht über Nationalpässe. Sie haben sich jedoch - jedenfalls nach Aktenlage und dem Vorbringen der Beteiligten - bislang hinreichend um deren Beschaffung bemüht, so dass ihnen ein Verschuldensvorwurf nicht gemacht werden kann. Den Antragstellern wurden - damals zu Recht - bereits in der Zeit vom 1. Februar 2002 bis zum 31. März 2002 Leistungen um 30% gekürzt, weil sie sich nicht hinreichend entsprechend bemüht hatten. Nachdem sie sich, wohl im Februar 2002, erfolglos an die russische und aserbaidschanische Botschaft gewandt hatten, ging die K. ab März 2002 davon aus, dass die Bemühungen ausreichend seien, was aus dem Schreiben der K. vom 5. März 2002 an die Verfahrensbevollmächtigte der Antragsteller und der Wiederaufnahme der Zahlung ungekürzter Leistungen deutlich wird. Auch in der Folgezeit setzten die Antragsteller ihre Bemühungen fort (Schreiben ihrer Verfahrensbevollmächtigten an die russische und aserbaidschanische Botschaft vom 17. März 2002, Bl. 6.10 f. der Beiakten D; erneuter Besuch der Antragsteller beim russischen Generalkonsul in Hamburg am 8. Oktober 2002, Bl. 1.150 der Beiakten D). Ungeachtet dessen und ohne weitere Begründung, eine solche findet sich jedenfalls nicht in den vorgelegten Akten, nahm die K. am 1. November 2002 die Kürzung nach § 1 a Nr. 2 AsylbLG wieder auf und verfährt so bis heute. Vermutlich stützt sich die K. lediglich auf die turnusmäßigen Mitteilungen der Ausländerstelle des Antragsgegners (sog. "gelbe Zettel", vgl. z.B. Bl. 1.20 der Beiakten C), die formblattmäßig - ohne weitere Begründung - die Auskunft erhalten: "Duldung ist m.E. selbst zu vertreten". Allein diese Mitteilungen rechtfertigen eine Leistungskürzung indessen nicht. Es ist im vorliegenden Verfahren nicht erkennbar, was die Antragsteller an weiteren Bemühungen hätten unternehmen sollen, zumal ihnen nichts Entsprechendes aufgegeben wurde.

Soweit die K. - letztmalig mit Bescheid vom 22. April 2003 - die Leistungen an den Antragsteller zu 1) wegen Arbeitsverweigerung nach § 5 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG komplett eingestellt hat, spricht alles dafür, dass dies - jedenfalls für die Zeit ab dem 1. August 2003 - rechtswidrig ist.

Die mit Bescheid vom 22. April 2003 angeordnete vollständige Einstellung der Leistungen nach dem AsylbLG ist fehlerhaft, weil es an einer -- erkennbaren -- Ermessensausübung der K. hinsichtlich Dauer der vollständigen Einstellung der Leistungsgewährung fehlt. Denn bei einem Verlust des Anspruchs auf Leistungen nach § 5 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG steht die Weitergewährung von Leistungen im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde.

Festzuhalten ist zunächst jedoch, dass das Verhalten des Antragsteller zu 1) grundsätzlich die Leistungseinstellung gerechtfertigt hat. Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG sind arbeitsfähige, nicht erwerbstätige und der Schulpflicht unterliegende Leistungsberechtigte zur Wahrnehmung einer zur Verfügung gestellten Arbeitsgelegenheit verpflichtet. Nach Abs. 4 Satz 2 dieser Bestimmung besteht bei unbegründeter Ablehnung einer derartigen Tätigkeit kein Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG. Der Leistungsberechtigte ist vorher entsprechend zu belehren, § 5 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG. Die Voraussetzungen für einen Anspruchsverlust des Antragstellers zu 1) gemäß § 5 Abs. 4 AsylbLG liegen vor.

Rechtsfehlerhaft ist die Leistungseinstellung aber, weil die K. wohl übersehen hat, dass sie die Absenkung der Leistungen auf "Null" nicht für eine unbegrenzte Zeit verfügen durfte. Der Ausschluss von Leistungen auf unbestimmte Zeit hätte eine Schlechterstellung des Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG zur Folge, die verfassungsrechtlich bedenklich sein dürfte. Der Umstand, dass diese Hilfesuchenden vielfach keine Möglichkeit haben, ihren notwendigen Lebensunterhalt anderweitig zu decken, spricht dafür, dass hier der im Menschenwürdegrundsatz - Art. 1 Abs. 1 GG - und dem Sozialstaatsprinzip - Art. 20 Abs. 1 GG - fußende Fürsorgegedanke nicht beachtet sein dürfte. Wenn in der Begründung zum Gesetzesentwurf des AsylbLG ausgeführt wird: "Im Einzelfall kann die nach den Umständen unabweisbare Hilfe gewährt werden" (vgl. BT-Drucks. 13/10155, S. 6) spricht dies dafür, dass eine auf § 5 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG gestützte Leistungseinstellung nicht der Regelfall sein soll. Somit handelt es sich bei § 5 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG nicht um eine sogenannte Sollvorschrift, bei der nur bei dem Vorliegen eines Ausnahmefalles eine Ermessensausübung hinsichtlich des Absehens einer Leistungseinstellung trotz des gesetzlichen Anspruchsverlustes in Betracht käme. Einer anderen Sichtweise steht ferner der Fürsorgegedanke entgegen.

Dieser Fürsorgeaspekt gebietet es, die Einstellung von Leistungen weder als Regelfall anzusehen noch gar sie auf unbestimmte Dauer zuzulassen. Vielmehr legen die verfassungsrechtlichen Anforderungen dem Hilfeträger die Pflicht auf, in jedem Fall neu zu berücksichtigen, dass den §§ 1, 3, 4 und 6 AsylbLG die Funktion der Existenzsicherung zukommt. Um diesem Gebot hinreichend Rechnung zu tragen, muss die Behörde den Leistungsfall "unter Kontrolle halten" und spätestens nach 3 Monaten (entsprechend der Verfahrensweise in Sozialhilfeangelegenheiten, die § 25 BSHG berühren) die Leistungseinstellung überprüfen, indem mit dem Asylbewerber erneut das Gespräch über seine Arbeitsverpflichtungen gesucht wird.

Der Bescheid der K. lässt - wie auch der übrige Akteninhalt - nicht erkennen, dass ihr die vorstehenden Rechtsgrundsätze bewusst waren. Zwar hat die Behörde - wohl in Anlehnung an § 25 Abs. 1 Satz 2 BSHG - auch hier im Rahmen von § 5 Abs. 4 AsylbLG zuvor eine stufenweise Leistungskürzung vorgenommen, jedoch bei der Leistungsversagung nicht das aus § 25 Abs. 3 BSHG (dessen Rechtsgrundsätze entsprechend anzuwenden sind) folgende Gebot zu verhüten, dass unterhaltsberechtigte Angehörige oder andere mit im Haushalt lebende Leistungsberechtigte durch eine verminderte Leistungsgewährung bzw. einer Leistungseinstellung mitbetroffen würden, berücksichtigt.