VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25.06.2003 - 13 S 2767/02 - asyl.net: M4115
https://www.asyl.net/rsdb/M4115
Leitsatz:

Der Ausländer hat das Ausreise- und Abschiebungshindernis der Passlosigkeit im Sinne des § 30 Abs. 3 AuslG zu vertreten, wenn er zumutbare Mitwirkungshandlungen zur Beseitigung dieses Hindernisses verweigert. Es ist einem ausreisepflichtigen Ausländer zumutbar, ernsthafte Bemühungen zur Beschaffung von Dokumenten (hier: Geburtsurkunde) aus seinem Heimatstaat [hier: Äthiopien] zu unternehmen, wenn die Beantragung eines Ausweispapiers bei der Auslandsvertretung des Heimatstaates unter Vorlage dieser Dokumente nicht von vornherein aussichtslos erscheint (...).(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltsbefugnis, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Passlosigkeit, Äthiopien, Äthiopier, freiwillige Ausreise, Mitwirkungspflichten, Vertretenmüssen, Ursächlichkeit, Zumutbarkeit, Passbeschaffung
Normen: AuslG § 30 Abs. 3; AuslG § 30 Abs. 4; AuslG § 55 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die zulässige Klage des Klägers zu Recht abgewiesen. Dieser hat keinen Anspruch auf erneute Entscheidung des Beklagten über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). [...]

Da der Kläger bestandskräftig abgelehnter Asylbewerber ist, kommt gemäß § 30 Abs. 5 AuslG für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis lediglich die Anwendung des § 30 Abs. 3 und 4 AuslG in Betracht. [...] Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 AuslG liegen nicht vor (1.). [...] Die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 4 AuslG kommt nicht in Betracht, weil der Kläger sich weigert, zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Abschiebungshindernisses zu erfüllen (2.). [...]

1.[...]

b) Die Abschiebung des Klägers ist auch wegen des Fehlens eines ausreichenden Ausweisdokuments aus tatsächlichen Gründen unmöglich. Das Fehlen eines Reisepasses oder eines sonstigen Ausweispapiers stellt jedenfalls dann ein tatsächliches Abschiebungshindernis im Sinne von § 55 Abs. 2 AuslG dar, wenn der betreffende Ausländer über kein Ausweisdokument verfügt und auch die Ausländerbehörde davon ausgeht, dass es zur Durchführung der Abschiebung eines solchen Dokuments bedarf (vgl. Senatsurteil vom 6.5.2003 - 13 S 1234/01 -, Hailbronner, AuslR,. § 55 AuslG, RdNr. 42; GK-AuslR, § 55 AuslG, RdNr. 41). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Kläger ist nicht im Besitz eines gültigen Ausweispapiers. Die langjährigen Versuche des Regierungspräsidiums Stuttgart, für ihn ein Rückreisedokument zu beschaffen, sind bislang erfolglos geblieben. Aus dem Verhalten des Regierungspräsidiums Stuttgart ist ferner zu schließen, dass auch dieses davon ausgeht, eine zwangsweise Rückführung des Klägers in seinen Heimatstaat ohne ein äthiopisches Ausweisdokument sei ausgeschlossen. Andernfalls hätte es bereits einen Abschiebungsversuch unternommen. Auch nach Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Addis Abeba vom 10.10.2002 an das Landratsamt Ludwigsburg (S. 119 der Berufungsakten) ist die Ausstellung eines äthiopischen Reise-/Identitätspapiers Voraussetzung für eine erfolgreiche Rückführung nach Äthiopien. Ausweislich des in die Berufungsverhandlung eingeführten Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 15.1.2003 werden die Sicherheitskontrollen am Flughafen von Addis Abeba, aber auch die Pass- und Devisenkontrollen bei Ein- und Ausreise gewissenhaft und gründlich durchgeführt. Personen ohne reguläre Reisepapiere werde häufig die Einreise verweigert. Von deutschen oder EU-Stellen ausgestellte Heimreisepapiere würden i.d.R. nicht anerkannt. Danach steht fest, dass ein Abschiebungsversuch im Fall des Klägers, der keinerlei äthiopische Papiere besitzt, zum Scheitern verurteilt wäre.

c) Es fehlt auch an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass im Falle des Klägers eine freiwillige Ausreise möglich sein könnte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 25.9.1997 - 1 C 3.97 -, BVerwGE 105, 232) und des Senats (Urteil vom 7.3.1996 - 13 S 1443/95 -, EZAR 015 Nr. 7) ist die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 oder 4 AuslG ausgeschlossen, wenn der Ausländer seiner Ausreisepflicht freiwillig nachkommen könnte, der freiwilligen Ausreise also keinerlei Hindernisse entgegenstehen. Grundsätzlich ist von der Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise auszugehen, solange der Ausländer nicht durch einen gescheiterten Ausreiseversuch das Gegenteil nachweist. Es bedarf jedoch dann keines Versuchs der freiwilligen Ausreise in den Heimatstaat, wenn von vornherein feststeht, dass dieser Versuch erfolglos bleiben wird (vgl. Senatsurteile vom 7.3.1996, a.a.O.; vom 15.6.2001 - 13 S 370/00 -, vom 8.11.2001 - 13 S 2171/00 -, EZAR 015 Nr. 27 und vom 6.5.2003 - 13 S 1234/01 -). Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger die Einreise nach Äthiopien gestattet werden könnte. Ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 15.1.2003 verweigert Äthiopien trotz gegenteiliger Zusicherung selbst die Rücknahme von Äthiopiern mit abgelaufenen Reisepässen. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass Personen wie dem Kläger, die keinerlei äthiopische Identitätspapiere besitzen, erst recht die Einreise verweigert würde.

d) Der Kläger hat das danach bestehende tatsächliche Ausreise- und Abschiebungshindernis jedoch auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung im Sinne von § 30 Abs. 3 AuslG zu vertreten. Zu vertreten hat der Ausländer ein objektiv pflichtwidriges, vorwerfbares Verhalten nach dieser Vorschrift grundsätzlich dann, wenn es für ein Ausreise- oder Abschiebungshindernis ursächlich geworden ist (Senatsurteil vom 8.11.2001, a.a.O.). Eine Ursächlichkeit in diesem Sinne fehlt allerdings immer dann, wenn von vornherein feststeht, dass das Abschiebungshindernis auch durch ein pflichtgemäßes Verhalten nicht hätte beseitigt werden können. Erscheint es dagegen nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein dem Ausländer mögliches und zumutbares Verhalten zum Wegfall des Abschiebungshindernisses führt und verweigert er dieses Verhalten, kommt die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG ebenfalls nicht in Betracht. In solchen Fällen kann erst dann davon ausgegangen werden, dass das Abschiebungshindernis nicht vom Ausländer zu vertreten ist, wenn er die ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat und diese dennoch nicht zur Beseitigung des Abschiebungshindernisses geführt haben. Bei Anwendung dieser Grundsätze scheidet hier die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG aus. Der Kläger hat wegen fehlender Rückkehrwilligkeit bei der Passbeschaffung durchgehend nur zögerlich mitgewirkt und nicht alle zumutbaren Maßnahmen zur Beschaffung von Rückreisedokumenten unternommen. Er hat ein Mal - 1995 - Passantragsformulare ausgefüllt, dabei aber keine Identitätsnachweise beigefügt und erst auf mehrmalige Mahnung am 23.4.1996 der Ausländerbehörde mitgeteilt, dass er über solche nicht verfüge. Der Aufforderung zur persönlichen Vorsprache bei der äthiopischen Botschaft, die bereits 1996 an ihn gerichtet wurde und die auch Gegenstand der Passverfügung vom 23.2.1998 war, ist er erstmals am 13.12.1999 gefolgt. Damit hat er seine Mitwirkung bei der Beschaffung von Rückreisedokumenten zwar nicht völlig verweigert; als ausreichend könnte die Mitwirkung aber nur dann angesehen werden, wenn er damit alles Zumutbare und Erforderliche getan hätte. Das kann nach Auffassung des Senats nicht bejaht werden. Zwar ist aufgrund der amtlichen Auskunft des Regierungspräsidiums Stuttgart davon auszugehen, dass die äthiopische Botschaft nach der letzten Vorsprache des Klägers dort die Voraussetzungen für die Ausstellung eines äthiopischen Reisepasses nochmals verschärft hat und nunmehr grundsätzlich kumulativ sowohl eine vom äthiopischen Außenministerium und Immigration Office gestempelte und von der Deutschen Botschaft Addis Abeba legalisierte Geburtsurkunde als auch zwei Aussagen von Zeugen verlangt, die die äthiopische Staatsangehörigkeit des Antragstellers bestätigen können. Nach den vom Kläger vorgelegten Bescheinigungen der äthiopischen Botschaft Berlin müssen die Zeugen äthiopische Staatsbürger und im Besitz von gültigen äthiopischen Pässen sein. Im Hinblick auf diese schwer zu erfüllenden Anforderungen und die mangelnde Kooperationsbereitschaft der äthiopischen Botschaft sieht das Regierungspräsidium Stuttgart auch nunmehr von der zwangsweisen Vorführung ausreisepflichtiger äthiopischer Staatsangehöriger auf der Botschaft ab.

Die dargestellten Anforderungen gelten nach der amtlichen Auskunft des Regierungspräsidiums Stuttgart indessen nicht uneingeschränkt. Dem Regierungspräsidium sind Fälle positiv bekannt, in denen äthiopischen Staatsangehörigen bei freiwilliger Beantragung eines Passes, etwa zum Zweck der Eheschließung oder zur Erlangung eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet, problemlos ein solcher ausgestellt wurde. Dass die äthiopische Botschaft auch in diesen Fällen die Beibringung von zwei Zeugen verlangt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, da das Regierungspräsidium keine genaue Kenntnis darüber hat, unter welchen Voraussetzungen die Ausstellung von Ausweispapieren erfolgt ist. Da es in den dem Regierungspräsidium bekannten Fällen aber problemlos zur Passausstellung gekommen ist, kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass in diesen Fällen auf das Erfordernis der Beibringung von zwei Zeugen verzichtet worden ist. [...]

2. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 4 AuslG liegen ebenfalls nicht vor. Diese Vorschrift stellt auf die Obliegenheit des ausreisepflichtigen Ausländers ab, alles in seiner Kraft Stehende und ihm Zumutbare dazu beizutragen, etwaige Abschiebungshindernisse zu überwinden. Dafür ist es nicht erforderlich, dass der Ausländer sich "förmlich" weigert, ein Abschiebungshindernis zu beseitigen. Es genügt, dass er zumutbare Handlungen zur Ermöglichung seiner Ausreise unterlässt oder verzögert. Derartige Handlungen können nur dann nicht verlangt werden, wenn sie von vornherein aussichtslos sind, d.h. wenn praktisch ausgeschlossen erscheint, dass sie das Abschiebungshindernis beseitigen können (vgl. BVerwG, Urteile vom 24.11.1998 - 1 C 8.98 -, a.a.O. S. 29 und vom 15.2.2001 - 1 C 23.00 -, BVerwGE 114, 9 15>). Daran gemessen kommt die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 4 AuslG ebenfalls nicht in Betracht; denn der Kläger weigert sich, Bemühungen zu unternehmen, um eine Geburtsurkunde aus seinem Heimatstaat zu erhalten. Die Auskünfte der Deutschen Botschaft in Addis Abeba vom 24.4.2002 und vom 10.10.2002 lassen es entgegen der Auffassung des Klägers jedenfalls als nicht von vornherein aussichtslos erscheinen, dass bei Beauftragung eines dortigen Rechtsanwalts die zuständigen Behörden dem Kläger eine Geburtsurkunde ausstellen könnten. Die Tragung der damit verbundenen Kosten (Anwaltshonorar, Gebühren, Beglaubigungskosten etc.) ist dem Kläger auch zumutbar, soweit sich diese in einem angemessenen Rahmen bewegen. Dafür, dass willkürlich überhöhte Gebühren anfallen könnten, ist nichts ersichtlich. Allein die Ungewissheit über die Höhe der entstehenden Kosten befreit den Kläger nicht von seiner Obliegenheit, sich zunächst um Ausstellung einer Geburtsurkunde zu bemühen und alle hierzu erforderlichen Handlungen zu unternehmen, insbesondere einen Rechtsanwalt zu beauftragen und ihm die notwendigen Vollmachten zu erteilen. Des weiteren erscheint es auch nach der amtlichen Auskunft des Regierungspräsidiums Stuttgart nicht ausgeschlossen, dass dem Kläger bei einer erneuten freiwilligen Vorsprache auf der Botschaft unter Vorlage der Geburtsurkunde ein Reisepass ausgestellt wird, sofern er angibt, diesen im eigenen Interesse zu benötigen. Damit besteht die Möglichkeit, dass bei hinreichender Mitwirkung des Klägers das Ausreise- und Abschiebungshindernis der Passlosigkeit beseitigt werden könnte. [...]