VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 24.07.2003 - 9 K 2258/00.A - asyl.net: M4166
https://www.asyl.net/rsdb/M4166
Leitsatz:

§ 51 Abs. 1 AuslG für afghanischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum christlichen Glauben.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Moldawien (A), Studium, Christen, Konversion, Gebietsgewalt, Übergangsregierung, Strafverfolgung, Scharia, Todesstrafe
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 09.06.2000 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO), soweit das Vorliegen der Voraussetzungen des

§ 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes - AuslG - verneint wurde. Der Bescheid ist auch aufzuheben, soweit das Nichtbestehen eines Abschiebungshindernisses festgestellt und den Klägern die Abschiebung nach Afghanistan angedroht wurde.

Für das Bestehen eines Staates oder eines staatsähnlichen Gefüges ist in ersten Linie maßgeblich, ob ein Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität vorliegt, d.h. ob eine übergreifende Friedensordnung mit einem prinzipiellen Gewaltmonopol existiert, die von einer hinreichend organisierten, effektiven und stabilen Gebietsgewalt in einem abgrenzbaren (Kern-)Territorium getragen wird. Erforderlich ist eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft, wobei der Lage im Innern und der Dauer des Bestandes der Herrschaftsorganisation entscheidende Bedeutung zukommen (vgl. BVerwG, U.v. 20.02.2001 - 9 C 20.00 -, NVwZ 2001, 815 und U.v. 20.02.2001 - 9 C 21.00 -, NVwZ 2001, 818 im Anschluss an BVerfG, B.v. 10.08.2000 a.a.O.)

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben geht die Kammer davon aus, dass seit dem Abschluss der Sonderratsversammlung (Emergency Loya Jirga) im Juni 2002 und der Bildung einer Übergangsregierung unter dem Präsidenten Hamid Karzai Afghanistan wieder als Staat zu betrachten ist, der neben Staatsgebiet und Staatsvolk wieder über eine legitime (Übergangs-) Regierung verfügt, die für den afghanischen Staat handelt und damit grundsätzlich auch Staatsgewalt ausübt (vgl. VG Leipzig, U.v. 27.08.2002 - A 4 K 31167/97 -, Asylmagazin 12/2002, 15; a.A. VG Aachen, U.v. 04.12.2002 - 5 K 2188/95.A; die Frage offen lassend OVG NRW, U.v. 20.03.2003 - 20 A 4329/97.A - und U.v. 15.05.2003 - 20 A 3328/97.A -).

Der Feststellung bereits bestehender staatlicher Herrschaftsstrukturen steht nicht entgegen, dass die Übergangsregierung derzeit nur im Raum Kabul mit Hilfe der dort stationierten internationalen Schutztruppe - ISAF - eigenständig eine übergreifende Ordnung durchzusetzen vermag und im übrigen auf die Kooperation der regionalen und lokalen Machthaber in den Provinzen angewiesen ist (vgl. Gutachten von Dr. Mostafa Danesch vom 05.08.2002 an VG Schleswig und vom 09.10.2002 an VG Wiesbaden; Gutachten von Dr. Bernt Glatzer vom 26.08.2002 an VG Schleswig). Zwar ist von der Existenz einer Staatsgewalt erst dann auszugehen, wenn sie sich tatsächlich durchgesetzt hat. Dies ist im Hinblick auf die Regierung Karzai jedenfalls insoweit der Fall, als auch in den Teilen Afghanistans, in denen noch Verwaltungsstrukturen bestehen (Danesch vom 09.10.2002 a.a.O.), die aus der Loya Jirga hervorgegangene Übergangsregierung als afghanische Regierung anerkannt wird. Insoweit unterscheidet sich die Situation von den Verhältnissen vor der Entmachtung der Taliban, als die sich bekämpfenden Gruppierungen der Taliban und der Nordallianz jeweils für sich selbst die Regierungsgewalt für Afghanistan in Anspruch genommen haben. Auch wenn die Regierung Karzai derzeit angesichts eines fehlenden bzw. unzureichenden administrativen Unterbaus noch nicht in der Lage ist, außerhalb Kabuls die staatlichen Funktionsbereiche effektiv zu kontrollieren (vgl. dazu Auswärtiges Amt vom 02.12.2002 a.a.O.), wird die Regierung von den Machthabern in den Provinzen zumindest verbal anerkannt (Danesch vom 05.08.2002 a.a.O.). Die Kammer geht daher davon aus, dass dort für die insoweit noch nicht handlungsfähige Übergangsregierung gehandelt wird und dementsprechend hoheitliche Maßnahmen in den Provinzen der Regierung in Kabul zugerechnet werden müssen.

Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen gehen von der Regierung Karzai derzeit zwar regelmäßig keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr für die unter dem Regime der Taliban gefährdeten Bevölkerungsgruppen, insbesondere die ethnischen und religiösen Minderheiten aus, auch wenn traditionell bestehende Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien lokal in unterschiedlicher Intensität fortbestehen. Auch Personen, die der DVPA, dem Geheimdienst Khad oder den kommunistischen Streitkräften nicht in herausgehobenen Positionen angehört haben, droht derzeit keine politische Verfolgung durch die Regierung Karzai (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 04.06.2002 und 02.12.2002, s.a. Glatzer vom 26.08.2002 a.a.O.; Danesch vom 05.08.2002 a.a.O.; UNHCR, Stellungnahme zur Frage der Flüchtlingseigenschaft afghanischer Asylsuchender vom 23.04.2003).

Die Kläger brauchen daher wegen der im Verwaltungsverfahren geltend gemachten Zugehörigkeit des Klägers zu 1. zur Volksgruppe der Hazara und auch wegen seines Studiums in Moldawien keine Verfolgungsmaßnahmen mehr zu befürchten.

Eine asylrechtlich relevante Verfolgung droht den Klägern jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen des Beitritts des Klägers zu 1. vom moslemischen zum christlichen Glauben. Der Kläger hat durch seine schriftlichen Ausführungen sowie seine Angaben in der mündlichen Verhandlung und die vorgelegte Bescheinigung des Pastors S. vom 04.02.2003, die dieser in der Verhandlung erläutert hat, zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen, dass die Konversion auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel beruht und nicht lediglich im Hinblick auf das anhängige Asylverfahren erfolgt ist.

Bereits unter der Herrschaft der Taliban mussten Konvertiten zum Christentum mit der Todesstrafe rechnen, wenngleich Fälle der Verhängung der Todesstrafe der deutschen Botschaft in Islamabad nicht bekannt geworden sind (Bericht der Deutschen Botschaft Islamabad vom 12.07.2001 - juris -). Es ist auch derzeit nicht erkennbar, dass sich die Einstellung staatlicher Stellen gegenüber Konvertiten unter der Übergangsregierung Karzais in erheblicher Weise geändert hat. Hamid Karzai selbst bezeichnet Afghanistan als islamisches Land (vgl. Auswärtiges Land Amt vom 02.12.2002 a.a.O., S. 4) und es besteht in der islamischen Rechtslehre Einverständnis darüber, dass der Abfall vom Glauben ein todeswürdiges Verbrechen ist (vgl. Gutachten des Deutschen Orient-Institutes vom 03.01.2002 (betreffend Ägypten) für das VG Schwerin - juris -). Dies wird auch in Afghanistan so gesehen (vgl. UNHCR vom 23.10.2003 a.a.O., Abschnitt II (vi); European Comission, country Report by the Netherlands on the situation in Afghanistan (19.08.2002), S. 38). Die Bedeutung des islamischen Rechts im afghanischen Staatswesen wird auch dadurch unterstrichen, dass die Scharia in Kabul praktiziert wird (vgl. Gutachten von Dr. Mostafa Danesch vom 21.05.2003 an VG Braunschweig, S. 5; vom 18.02.2003 an VG Gießen, S. 5 und vom 29.01.2003 a.a.O., S. 8; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistans - die aktuelle Situation, Update vom 03.03.2003, S. 10) ist davon auszugehen, dass Konvertiten staatlicher Stellen und der Besetzung staatlicherseits bedroht sind. Dies zeigt sich an dem ersten Entwurf der bis Oktober 2003 fertigzustellenden Verfassungs Afghanistans, an der Einrichtung religiös motivierter staatlicher Stellen und der Besetzung staatlicher Posten. Nach dem ersten Verfassungsentwurf sollen u.a. Handlungen wider die islamische Religion verboten sein (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 03.03.2003 a.a.O., S. 10).

Selbst Afghanen, die für christliche Nichtregierungsorganisationen arbeiten, müssen darauf achten, nicht den Verdacht auf sich zu lenken, mit dem christlichen Glauben zu sympathisieren (vgl. European Commission, Report on fact-finding mission to Kabul and Masar-i-Sharif, Afghanistan and Islamabad, Pakistan (22.09. - 05.10.2002), Source: Denmark, S. 52 ).

Insgesamt betrachtet besteht daher für den Kläger zu 1. bei einer Rückkehr und einem Bekanntwerden seiner Konversion in Afghanistan eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er wegen des Abfalls vom islamischen Glauben Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wäre, die der Übergangsregierung zugerechnet werden müssten. Von den Auswirkungen dieser Maßnahmen wären auch die weiteren, ebenfalls christlich getauften Mitglieder seiner Familie nicht verschont.