VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 05.09.2003 - 3 A 3238/01 - asyl.net: M4228
https://www.asyl.net/rsdb/M4228
Leitsatz:

Traumatisierte Albaner aus dem Kosovo keine Gruppe i.S.d. § 53 Abs. 6 S. 2, § 54 AuslG. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Albaner, Psychische Erkrankung, Traumatisierte Flüchtlinge, Posttraumatische Belastungsstörung, Fachärztliche Stellungnahmen, Sachverständigengutachten, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung, Retraumatisierung, Allgemeine Gefahr, Gefahrenbegriff
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Die Klägerin kann aber angesichts ihres Krankheitsbildes die Feststellung beanspruchen, dass bei ihr ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG bezüglich Serbiens und Montenegros einschließlich des Kosovo vorliegt. Dies hat seinen Grund nicht bereits darin, dass sich ihre Krankheit in ihrem Heimatstaat in erheblicher Weise verschlimmern könnte, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend oder für sie nicht erreichbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.1998 - 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973; Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524, 525). Denn für die gutachterlich festgestellte Erkrankung der Klägerin - eine posttraumatische Belastungsstörung mit schwerer depressiver Symptomatik und anhaltender somatoformer Schmerzstörung - bestehen in Serbien und Montenegro einschließlich des Kosovo ausreichende Behandlungsmöglichkeiten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Serbien und Montenegro vom 28.07.2003, Seite 27 ff; 29; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Köln vom 11.04.2003), und zwar sowohl medikamentös als auch stationär in einigen Behandlungszentren für kriegsbedingte traumatische Belastungsstörungen. Da aus den Informationen aus den beiden letzten Jahren keinerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ethnische Albaner oder Angehörige anderer ethnischer Minderheiten außerhalb des Kosovo hinsichtlich ihrer medizinischen Versorgung oder in anderen Bereichen benachteiligt oder auf sonstige Weise gegenüber der übrigen Bevölkerung in beachtenswertem Umfang diskriminiert würden, wäre der Klägerin - und ggf. ihrer Familie - auch durchaus zuzumuten, den Aufenthalt bei einem Therapiezentrum außerhalb des Kosovo zu nehmen.

Ungeachtet der Behandlungsmöglichkeiten in Serbien und Montenegro einschließlich des Kosovo ist der Klägerin trotzdem eine Rückkehr nicht zuzumuten, weil dadurch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Retraumatisierung mit erheblicher Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes verursacht werden würde. Zu diesem Ergebnis ist die Gutachterin (Wiedemann) aufgrund einer Untersuchung der Klägerin gekommen. Sie führt im Gutachten vom 17.04.2003 (Seite 49) aus, dass der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in das Kosovo oder in eine andere Region von Serbien und Montenegro mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Retraumatisierung als Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes droht. Aufgrund der mit einer Rückführung verbundenen massiven Konfrontation mit dem "Ort des Geschehens" werde die Klägerin mit einer großen Anzahl traumaspezifischer Trigger konfrontiert, was die bestehenden Ängste und Beschwerden deutlich verstärken würde. Das Gutachten berücksichtigt die in der Literatur veröffentlichten Erkenntnisse, wendet die allgemein anerkannten Diagnosemethoden an und begründet die Ergebnisse in sich schlüssig und widerspruchsfrei in einer auch für den medizinischen Laien verständlichen, nachvollziehbaren Art und Weise; das Gericht teilt deshalb nicht die Zweifel der Beklagten an der Richtigkeit der gefundenen Diagnose sowie der daraus für die Beantwortung der Beweisfragen gezogenen Schlussfolgerungen.

Dieser erheblichen weiteren Gefahr für den ohnehin schlechten psychischen Gesundheitszustand der Klägerin kann nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass sie sich unverzüglich nach einer Rückkehr in den Heimatstaat in psychologische Behandlung begibt, in deren Rahmen eine Retraumatisierung gleich mit behandelt werden könnte. Eine Behandlung von seelischen Wunden ist nämlich nur dann sinnvoll und Erfolg versprechend, wenn sie nicht durch die tägliche Konfrontation mit der Umgebung und den dort verorteten leidvollen Erinnerungen wieder neu aufgerissen werden. Es geht also nicht nur um die Sicherung der Fortsetzung eines eventuell in Deutschland eingeleiteten Linderungsprozesses im Heimatstaat, sondern insbesondere auch um den Schutz vor eigenständigen neuen seelischen Verletzungen (vgl. Treiber, Fallgruppen. traumatisierter Flüchtlinge im Asylverfahren, www.bafl.de/template/publikationen/asylpraxis_pdf; i.E. ebenso: VG Düsseldorf, Urt. v. 14.02.2003 - 26 K 6089/02.A -; VG Sigmaringen, Urt. v. 25.09.2001 - A 4 K 11142/00 und Urt . v. 11.05.1999 - 7 K 2297/98 -; VG Wiesbaden, Urt. v. 05.01.2000 - 9 E 30344/94.A -; VG München, Urt .v. 23.06.1999 - M 26 K 97.51801 -; VGH BW, Beschl. v. 07.05.2001 - 11 S 389/01 -, AuAS 2001, 174; BayVGH, Urt. v. 20.10.1999 - 23 B98.305:24 -). Da es der bestellten Gutachterin nicht möglich war, die Gefahr einer erneuten Traumatisierung der Klägerin räumlich auf den Ort, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, oder auch nur regional einzugrenzen, kann die Klägerin nicht auf eine Aufenthaltnahme an anderen Orten in Serbien oder Montenegro als Alternative zur Gewährung von Abschiebungsschutz verwiesen werden. Denn den Orten und Verursachern des erlittenen Grauens ähnliche Gebäude, Plätze, Landschaften, Wälder und Personen werden ihr auch andernorts begegnen und ihre traumaauslösenden Erinnerungen wachrufen.

Die Feststellung eines Abschiebungshindernisses kann im vorliegenden Fall schließlich auch nicht daran scheitern, dass die Anzahl traumatisierter Albaner aus dem Kosovo so groß wäre, dass eine Entscheidung nach § 54 AuslG erforderlich und individueller Abschiebungsschutz deshalb nur nach § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG - bei extremer Gefahrenlage, die nach den obenstehenden Ausführungen jedoch nicht vorliegt - zu gewähren wäre.

Unabhängig davon, ob eine "in Deutschland lebende kosovo-albanische Bevölkerungsgruppe bürgerkriegsbedingt Traumatisierter" schon deshalb nicht besteht, weil es sich trotz der Vielzahl der Traumatisierten um eine Schädigung durch jeweils "individuelle Kriegserlebnisse" handelt (vgl. hierzu OVG Münster, Beschl. v. 19.11.1999 -19 B 1599/98 -; OVG Saarl., Beschl. v. 20.09.1999 -9 Q 286/98 -), wäre ein solche Gruppe gleichartig Geschädigter nicht groß genug, dass es einer politischen Leitentscheidung nach § 54 AuslG - wegen der weitreichenden Folgewirkungen als politische Grundsatzentscheidung (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324-331) bedürfte.