VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.07.2003 - 11 S 2622/02 - asyl.net: M4255
https://www.asyl.net/rsdb/M4255
Leitsatz:

Zu den Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses (hier: Reiseunfähigkeit im engeren und im weiteren Sinn) als Duldungsgrund durch ärztliche Atteste (im Anschluss an die Beschlüsse des Senats vom 2.5.2000 - 11 S 1936/99 - und vom 7.5.2001 - 11 S 389/01 -). (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Türken, Abgelehnte Asylbewerber, Psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Suizidgefahr, Fachärztliche Stellungnahmen, Sachverständigengutachten, Reisefähigkeit, Abschiebungshindernis, Inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Begleitete Abschiebung, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AuslG § 55 Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 2 S. 1 ; VwGO § 123
Auszüge:

Die Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg, da die Antragsteller keinen Grund für eine erstrebte Aussetzung ihrer Abschiebung (Duldung, § 55 Abs. 1 AuslG) bis zum Vorliegen eines amtsärztlichen Gutachtens, das die Reisefähigkeit der Antragstellerin zu 1 bestätigt, hinreichend glaubhaft gemacht haben. Entgegen der Ansicht der Antragsteller und des Verwaltungsgerichts ist es nicht hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragstellerin zu 1 wegen ihrer gesundheitlichen Situation ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zusteht und demnach auch ihre Kinder, die Antragsteller zu 2 bis 4, Anspruch auf einen entsprechenden Schutz vor einer Abschiebung haben. Denn unter Beachtung der rechtlichen Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines sogenannten inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses aus gesundheitlichen Gründen, das im Fall der Antragstellerin zu 1 - als abgelehnter Asylbewerberin - Grundlage eines - im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) zu sichernden - Anspruchs auf Aussetzung der Abschiebung (§ 55 Abs. 2 AuslG) sein könnte, hat die Antragstellerin zu 1 weder glaubhaft gemacht, dass bei ihr gesundheitliche Beeinträchtigungen in Bezug auf ihre eigentliche Reisefähigkeit vorliegen, die eine Aussetzung ihrer Abschiebung - wie das Verwaltungsgericht entschieden hat - bis zu einer amtsärztlichen Bestätigung ihrer Reisefähigkeit im Sinne einer Transportfähigkeit rechtfertigen (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), noch dass etwa wegen der Gefahr, dass unmittelbar durch die Abschiebung ein Gesundheitsschaden eintreten oder verfestigt würde, ein vorläufiger Rechtsschutz in dem vom Verwaltungsgericht gewährten Umfang gerechtfertigt ist (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn).

Im Fall der Antragstellerin zu 1 ist davon auszugehen, dass für sie ausschließlich sogenannte inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die der Durchführung einer Abschiebung entgegenstehen, jedoch nicht sogenannte zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, die sich auf drohende Gefahren im Zielstaat der Abschiebung (hier: Türkei) beziehen, erheblich sein können. Denn die Antragstellerin zu 1 hat erfolglos ein Asylverfahre durchgeführt.

Nach den von den Antragstellern vorgelegten ärztlichen Attesten ist es nicht hinreichend wahrscheinlich, dass bei der Antragstellerin zu 1 die Voraussetzungen für ein solches inlandsbezogenes Abschiebungshindernis wegen einer krankheitsbedingten Reiseunfähigkeit gegeben sind, die eine Aussetzung ihrer Abschiebung bis zum Vorliegen einer amtsärztlichen Bestätigung ihrer Reisefähigkeit rechtfertigen. Denn diese ärztlichen Atteste enthalten keine unmittelbaren Aussagen darüber, dass etwa - aus der Sicht des Arztes - die Reisefähigkeit der Antragstellerin zu 1 aus gesundheitlichen Gründen nicht vorliege oder so erheblich eingeschränkt sei, dass aus Anlass der Durchführung der Abschiebung gravierende Folgen für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der Antragstellerin zu 1 zu erwarten wären. Vielmehr äußern sich diese ärztlichen Atteste zwar dazu, dass die Antragstellerin zu 1 an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung leidet, die durch verschiedene Ursachen ausgelöst worden ist. Diese ärztlichen Stellungnahmen enthalten jedoch keine Aussagen darüber, dass bei der Antragstellerin zu 1 deshalb etwa keine Reisefähigkeit vorliegt, die in ihrer Bedeutung für eine Abschiebung einer Transportfähigkeit entspricht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn).

Aus diesen ärztlichen Bescheinigungen ergibt sich - unter Berücksichtigung der Anforderungen an die Qualität solcher Bescheinigungen - insgesamt, dass nach der Einschätzung der Ärzte bei der Antragstellerin zu 1 zwar ein erhebliches Krankheitsbild vorliegt, das einer ärztlichen Behandlung bedarf. Durch diese fachkundigen ärztlichen Atteste wird jedoch nicht glaubhaft gemacht, dass die Frage der Reisefähigkeit (Transportfähigkeit) der Antragstellerin zu 1 davon in einer Weise betroffen wäre, die eine Aussetzung der Abschiebung der Antragstellerin zu 1 rechtfertigen könnte.

Es bedarf zwar im vorliegenden Verfahren keiner grundsätzlichen und abschließenden Klärung der Frage, welche Anforderungen an die Qualität ärztlicher Atteste und Bescheinigungen zu stellen sind. Insoweit weist der Senat jedoch darauf hin, dass zwischen einer Begutachtung, die auf einem ausdrücklichen Gutachtenauftrag eines Gerichts oder einer Behörde beruht, und einem ärztlichen Attest, das auf die Bitte des Patienten erstellt wird, Unterschiede in Bezug auf die Darlegung der gewonnenen Erkenntnisse - sowohl in der Exploration als auch in der Diagnose - und damit auch auf die Bedeutsamkeit für die daraus zu ziehenden Folgerungen bestehen. Ein ärztliches Gutachten, das auf Grund eines Beweisbeschlusses eines Gerichts oder eines entsprechenden Auftrags einer Behörde erstellt wird, muss in jedem Fall - wie der Antragsgegner zutreffend vorbringt - die medizinischen Untersuchungsmethoden nach dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand darlegen und eine nachvollziehbare, logisch begründete Antwort auf die gestellte (Beweis-) Frage enthalten. Bei ärztlichen Bescheinigungen (Attesten), die auf die Bitte des Patienten erstellt werden (auch sog. "Privatgutachten"), sind derart strenge Anforderungen grundsätzlich nicht zu stellen. Solche ärztlichen Atteste müssen aber jedenfalls die Mindestvoraussetzungen an eine fachliche Beurteilung erfüllen. Sie müssen zumindest nachvollziehbar die tatsächlichen Umstände angeben, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist (Befundtatsachen), und gegebenenfalls müssen sie die Methode der Tatsachenerhebung benennen. Ferner ist die fachliche medizinische Beurteilung des Krankheitsbilds (Diagnose) nachvollziehbar ebenso darzulegen wie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben (prognostische Diagnose). Der Umfang und die Genauigkeit der erforderlichen Darlegungen richten sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls (insbesondere: Komplexität des Krankheitsbildes, Gewichtigkeit und Konsequenzen der Diagnose) und entziehen sich einer generellen Beurteilung. So sind etwa Angaben über die Einhaltung und die Berücksichtigung internationaler Qualitätsstandards (in Gestalt der Krankheitsklassifikationen nach der ICD-10 <International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, tenth revision - siehe: -> der Weltgesundheitsorganisation <WHO> für eine posttraumatische Belastungsstörung, vgl. dazu u.a. Marx, InfAuslR 2000, 357, und InfAuslR 2003, 21; auch VG Gera, Beschluss vom 4.10.2002 - 1E 1055/02 GE - m.w.N.) dann zu verlangen, wenn eine entsprechend gewichtige und komplexe Diagnose mit weitreichenden Folgen bescheinigt wird. Andererseits kann beispielsweise auch eine nur kurze ärztliche Bescheinigung (z.B. über eine akute und eindeutig diagnostizierbare Erkrankung oder einen Unfall) zur hinreichenden Glaubhaftmachung einer Reiseunfähigkeit ausreichen. Insgesamt ist dabei zu beachten, dass jedes (Fach-) Gutachten und auch jedes ärztliche Attest nur als sachverständige Hilfe bei der selbständigen rechtlichen Beurteilung der streitigen Folgen durch das Gericht oder die Behörde dienen kann. Daher ist es einem Gutachter und auch dem Arzt, der ein (privates) Attest ausstellt, untersagt, etwa rechtliche Folgen seiner fachlich begründeten Feststellungen und Folgerungen darzulegen oder sich mit Rechtsfrage auseinander zu setzen.

Unter Beachtung dieser grundsätzlichen Anforderungen sind die vorgelegten ärztlichen Atteste in ihren Aussagen nicht in vollem Umfang aussagekräftig. So mindern z.B. die unzutreffenden Stellungnahmen insbesondere des Arztes Dr. M. zu einer nicht verfügten "Ausweisung" und zu einem "Bleiberecht" der Antragstellerin zu 1 sowie die eigene rechtliche Würdigung des Arztes, der von der Antragstellerin zu 1 begangene Diebstahl sei "nicht als Diebstahl zu werten", bei einer Gesamtwürdigung seiner Stellungnahmen ebenso den Wert seiner Beurteilungen wie seine - offensichtlich hinsichtlich des Wahrheitsgehalts unkritische - Übernahme der Angaben der Antragstellerin zu 1 zu ihrem angeblichen Verfolgungsschicksal als Auslöser ihrer Erkrankung. Den ärztlichen Attesten ist lediglich zu entnehmen, dass bei der Antragstellerin zu 1 derzeit - objektiv - ein Krankheitsbild vorliegt, das - entsprechend der ärztlichen Diagnose einer schweren depressiven Störung mit latenter Suicidalität, Ängsten und Panikattacken - eine ärztliche Behandlung erfordert.

Damit besteht aber nicht die - für eine Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu verlangende - hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass es einer Klärung der Reisefähigkeit der Antragstellerin zu 1 im engeren Sinn (Transportfähigkeit) vor einer Abschiebung wegen dabei zu erwartender gesundheitlicher Risiken durch ein amtsärztliches Gutachten bedarf.

Der Antragstellerin zu 1 kann auch nicht wegen der Gefahr des Eintritts oder der weiteren Verfestigung eines Gesundheitsschadens unmittelbar durch die Abschiebung (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn ein vorläufiger Rechtsschutz im Wege einer einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) bis zur Klärung ihrer Reisefähigkeit durch ein amtsärztliches Gutachten gewährt werden.

Den vorgelegten ärztlichen Attesten lassen sich weder unmittelbar noch mittelbar Aussagen dazu entnehmen, ob sich etwa allein durch die Abschiebung der Antragstellerin zu 1 oder als unmittelbare Folge der Abschiebung erhebliche krankheitsbedingte Gefahren ergeben könnten, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einem Gesundheitsschaden führen oder einen vorhandenen Gesundheitsschaden weiter verfestigen würden. Bei dieser Würdigung sind insbesondere die - auch nur vermuteten - Gefahren und Auswirkungen eines künftigen Aufenthalts der Antragstellerin zu 1 in der Türkei außer Betracht zu lassen, da - wie ausgeführt - durch die Entscheidung des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in ihrem Fall verbindlich feststeht, dass wegen der insoweit zu erwartenden Schwierigkeiten kein - zielstaatsbezogenes - Abschiebungshindernis (nach § 53 AuslG) besteht. Insoweit weist der Senat darauf hin, dass sich eine krankheitsbedingte zielstaatsbezogene Gefahr im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im Einzelfall auch daraus ergeben kann, dass der erkrankte Ausländer eine medizinische Behandlung, die im Zielstaat an sich verfügbar ist, tatsächlich nicht erlangen kann (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, DVBl. 2003, 463). Für ein - hier ausschließlich maßgebliches - inlandsbezogenes Abschiebungshindernis kommt es darauf aber nicht an.

Die ärztlichen Atteste enthalten jedenfalls zu einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis keine hinreichenden Feststellungen und Bewertungen.

Auch eine - der Antragstellerin zu 1 attestierte - latente Suizidalität rechtfertigt im vorliegenden Fall nicht eine zeitweise Aussetzung der Abschiebung wegen Zweifeln an der Reisefähigkeit der Antragstellerin zu 1. Mit der wiederholt gestellten ärztlichen Diagnose, bei der Antragstellerin zu 1 bestehe eine nicht offenkundige, kaum oder nicht in Erscheinung tretende ("latente") Neigung, Selbstmord zu begehen ("Suizidalität"), wird eine so beträchtliche Suizidgefahr, dass ernstlich befürchtet werden muss, diese werde sich - ohne hinreichende Vorkehrungen - im Zuge der Abschiebung verwirklichen, nicht glaubhaft gemacht.

Eine beachtliche Suizidgefahr lässt sich nicht immer schon dann annehmen, wenn ein Ausländer vor der Einreise in das Bundesgebiet traumatische Erlebnisse erlitten hat und deshalb an posttraumatischen Belastungsstörungen leidet, die bei der Ankündigung einer Abschiebung zu einer weiteren Verschlechterung des psychischen Zustands (Retraumatisierung) führen können. Dem Senat liegen keine sachverständigen Äußerungen vor, die besagen, dass in solchen oder in vergleichbaren anderen existenziellen persönlichen Krisen, die von der Furcht geprägt sind, ein erlittenes schlimmes Schicksal erneut zu erfahren, nach wissenschaftlicher Erkenntnis bei jedem Betroffenen ohne weiteres von einer konkreten Suizidgefährdung ausgegangen werden muss. Im Fall der Antragstellerin zu 1 liegen bereits keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass bei ihr die Anforderungen an die Feststellung einer solchen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erfüllt sind; die eher beiläufige Erwähnung dieser schwerwiegenden Störung in der ärztlichen Bescheinigung des Dr. (...) reicht dafür mangels hinreichender glaubhafter tatsächlicher Umstände jedenfalls nicht aus. Diese fachärztliche Stellungnahme beruht wesentlich auf den Angaben und Einschätzungen der Antragstellerin zu 1. Da sich diese im Asylverfahren als nicht zutreffend erwiesen haben, kann auch die Möglichkeit eines Suizids in einem anderem Licht erscheinen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.3.1995 - 2 BvR 492/95 u.a. -, InfAuslR 1995, 246, 251). Zudem wird in dem Attest auch nicht nachvollziehbar dargestellt, ob und gegebenenfalls in welcher Weise die in der ICD-10 klassifizierten Voraussetzungen einer PTBS (vgl. dort F 43.1 und F 62.0) bei der Antragstellerin zu 1 vorliegen sollen.

Im Übrigen hat der Antragsgegner ausdrücklich vorgetragen, dass bei Vorliegen einer Erkrankung alle Vorkehrungen getroffen werden müssten, um etwa einer denkbaren Verschlechterung des Gesundheitszustands entgegenzuwirken und eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben im Rahmen der verfügbaren Möglichkeiten auszuschließen, wie dies durch die Bereitstellung von medizinischem Begleitpersonal und gegebenenfalls durch Unterrichtung der Heimatbehörden des Zielstaats über die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung geschehen könne; eine Abschiebung komme nicht in Betracht, wenn aus medizinischen Gründen keine Transportfähigkeit vorliege. Es ist nicht ersichtlich, dass bei Einhaltung dieser Vorkehrungen eine Gefährdung der Antragstellerin zu 1 durch eine Abschiebung zu befürchten ist.