VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 13.08.2003 - A 5 K 11176/03 - asyl.net: M4290
https://www.asyl.net/rsdb/M4290
Leitsatz:

§ 53 Abs. 6 S. 1 AuslG für Polio-Kranken aus Pakistan, der dort die notwendige Behandlung nicht finanzieren kann.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, Minderjährige, Folgeantrag, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Krankheit, Post-Polio-Syndrom, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit
Normen: VwVfG § 51; VwVfG § 48 Abs. 1; VwVfG § 49 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG.

Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG wurden vom Kläger, der seit dem Alter von sieben Monaten an Polio bzw. dem Postpolio-Syndrom leidet, nicht eingehalten. Er litt bereits im Asylerstverfahren unter der Krankheit, und man hätte dies damals geltend machen können.

Das Bundesamt kann das Verfahren jedoch im Ermessenswege wiederaufgreifen, § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48 Abs. 1, 49 Abs. 1 VwVfG. Der bloße Anspruch des betroffenen Asylbewerbers auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung darüber, ob das Verfahren nach § 51 Abs. 5 i. V.m. §§ 48 Abs. 1, 49 Abs. 1 VwVfG wieder aufgegriffen wird oder nicht, kann sich infolge einer Ermessensreduzierung auf Null zu einem Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens verdichten.

Vorliegend ist von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen. Die Eltern und/oder der frühere Prozessbevollmächtigte des Klägers haben es versäumt, die Erkrankung bzw. Behinderung des Klägers im Asylerstverfahren vorzutragen. Dieses Versäumnis kann dem Kläger selbst, der mit seinen heute (...) und zum Zeitpunkt des Asylerstverfahrens (...) Jahren noch nicht prozessfähig ist bzw. war, nicht als eigenes Verschulden angelastet werden (vgl. § 12 Abs. 1 AsylVfG).

Beim Kläger besteht auch ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, da er im Falle der Rückkehr nach Pakistan einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre.

Ohne weitere Behandlung würde sich seine Erkrankung erheblich verschlechtern, und zwar erstens, weil er nicht mehr aufrecht laufen könnte und zweitens - damit einhergehend - wegen der Verschlimmerung der Wirbelsäulenverkrümmung.

Ausweislich der vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes, die auf dem Gutachten von Frau Dr. med. (...) basiert, wäre die Erkrankung des Klägers grundsätzlich in Pakistan behandelbar. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, in Pakistan seien die Orthesen qualitativ nicht mit denen in Deutschland zu vergleichen, so ist darauf hinzuweisen, dass § 53 Abs. 6 AuslG keinen Anspruch auf dauerhafte Teilhabe am medizinischen Standard in Deutschland begründet, wenn eine effektive und menschenwürdige Behandlung auch im Heimatland des Ausländers gewährleistet ist (vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 07.10.2002 - A 5 K 11222/02 - sowie Beschluss vom 03.01.2003 - A 5 K 12732/02 -).

Einer tatsächlichen Behandlungsmöglichkeit des Klägers steht jedoch die Mittellosigkeit seiner Familie entgegen.

Bei grundsätzlicher Behandelbarkeit seines Leidens in Pakistan fehlt es somit für den Kläger am Zugang zur Behandlung aus finanziellen Gründen. In solchen Fällen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weiter zu prüfen, ob sich eine derartige aus dem beschränkten Zugang zu einer Heilbehandlung im Ausland folgende Gesundheitsgefahr als individuelle, gerade den Kläger treffende Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG oder als Auswirkung einer allqemeinen Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG darstellt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.04.2002 - 1 B 59/02, 1 PKH 10/02).

Höchstrichterlich ungeklärt ist bislang die Frage, welche rechtlichen Konsequenzen es hat, wenn ein Großteil der Bevölkerung eines Landes aus finanziellen Gründen keinen Zugang zur medizinischen Versorgung hat. Gerade dies ist jedoch in Pakistan der Fall. In Pakistan existiert kein Krankenversicherungssystem, das - gerade auch bei Mittellosigkeit des Patienten - für die Kosten der Behandlung aufkäme.

Wenngleich das Bundesverwaltungsgericht sich noch nicht dezidiert zu dieser Frage geäußert hat, so lassen die Ausführungen im Beschluss vom 29.04.2002 (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.04.2002 - 1 B 59/02, 1 PKH 10/02 -) erkennen, dass die fehlende Finanzierbarkeit einer Behandlung grundsätzlich eine allgemeine Gefahr im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG darstellen kann. Offen bleibt aber, unter welchen Voraussetzungen dies der Fall ist, insbesondere, welche Bevölkerungsgruppe dabei zu Grunde zu legen ist: nur die an einer bestimmten Krankheit Leidenden oder die Gruppe der mittellosen Kranken insgesamt.

Die Zahl der in Pakistan an Polio Erkrankten bzw. unter dem Postpolio-Syndrom Leidenden stellt im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung einen verschwindend geringen Anteil dar, so dass diesbezüglich keine Bevölkerungsgruppe im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG vorläge. Erachtet man dagegen - dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof folgend - die Gruppe der Erkrankten ohne Einkommen und ohne finanzielle Unterstützung durch die Familie in Pakistan als maßgebliche Bevölkerungsgruppe, so stellt diese Gruppe einen erheblichen Anteil an der Bevölkerung dar, so dass der finanziell bedingte fehlende Zugang zur Krankenversorgung als allgemeine Gefahr im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG zu betrachten wäre.

Sinn und Zweck von § 53 Abs. 6 Satz 2 und § 54 AuslG sprechen jedoch gegen die Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs.

Bei wertender Betrachtung der Situation des Klägers und der Situation anderer mittelloser Kranker in Pakistan wird deutlich, dass den Betroffenen gerade nicht dieselbe Gefahr droht. Die Gefahr für Leib und Leben der Betroffenen besteht letztlich nicht darin, keinen Zugang zum Gesundheitssystem zu haben, sondern in der konkreten Weiterentwicklung der jeweiligen individuellen Krankheit. Dabei unterscheidet sich das Postpolio-Syndrom des Klägers in Art und Schwere ganz erheblich von anderen Krankheiten. Wenn es Sinn und Zweck von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG ist, eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle einheitlich zu entscheiden, so können nicht sämtliche in einem Land vorkommenden Krankheiten rechtlich gleichgestellt werden, nur weil die Patienten das Schicksal der Mittellosigkeit teilen. Die Gruppe der mittellosen Erkrankten ist derart inhomogen, und die ihnen aufgrund der individuellen Erkrankungen drohenden Gefahren sind derart vielschichtig, dass sich eine pauschale Betrachtung verbietet.

Eine pauschale Betrachtung wäre im Übrigen auch nicht mit der Definition der "allgemeinen Gefahr" durch das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 12.07.2001 vereinbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 5/01 ).

Aus den genannten Gründen kann daher nicht auf die Gruppe der mittellosen Erkrankten abgestellt werden, sondern nur auf die Gruppe der in Pakistan am Postpolio-Syndrom Leidenden.

Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung sind die in Pakistan an Polio (bzw. am Postpolio-Syndrom) Erkrankten eine zahlenmäßig zu geringe Gruppe, als dass sie als Bevölkerungsgruppe im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG angesehen werden könnten.

Die für den Kläger aus dem beschränkten Zugang zu einer Heilbehandlung in Pakistan folgende erhebliche und konkrete Gesundheitsgefahr stellt sich somit als individuelle, gerade den Kläger treffende Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG dar, so dass die Beklagte zu verpflichten war, für den Kläger ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG festzustellen.