VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 29.09.2003 - 12 TG 2339/03 - asyl.net: M4335
https://www.asyl.net/rsdb/M4335
Leitsatz:

1. Rumänische Staatsangehörige gehören nicht zu der Gruppe der Positivstaater, die nach deutschem Recht ohne Visum als Besucher einreisen und sich bis zu drei Monaten in Deutschland aufhalten dürfen, ihnen ist aber kraft Gemeinschaftsrechts sowohl das Uberschreiten der EU-Außengrenzen (ausgenommen im Vereinigten Königreich und Irland) für einen kurzfristigen Aufenthalt als auch der anschließende Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Schengen-Vertragsstaaten bis zur Dauer von drei Monaten innerhalb von sechs Monaten nach der ersten Einreise erlaubt.

2. Es spricht sehr viel dafür, dass eine bereits bei der Einreise bestehende Absicht des Drittstaatsangehörigen, den Aufenthalt über die danach vorgesehene visumsfreie Dauer hinaus auszudehnen (z.B. Beispiel nach der Eheschließung mit einem Unionsbürger), der gemeinschaftsrechtlichen Visumfreiheit für Kurzaufenthalte anders als nach deutschem Recht entgegensteht mit der Folge, dass sich die Einreise als rechtswidrig darstellt. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Rumänen, Positivstaater, Negativstaater, Kurzaufenthalt, Gemeinschaftsrecht, Eheschließung, Deutschverheiratung, Aufenthaltserlaubnis, Familienzusammenführung, Visumspflicht, Illegale Einreise, Visum nach Einreise, Aufenthaltsbefugnis, Duldung, Abschiebungshindernis, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Zulässigkeit, Einstweilige Anordnung
Normen: AuslG §17; AuslG § 23; AuslG § 3; AuslG § 8; DV AuslG § 9; EuVisaVO; SDÜ Art 20
Auszüge:

Stellt sich danach der Aufenthalt der Antragstellerin in Deutschland im Anschluss an die Einreise über eine EU-Außengrenze aufgrund Art. 20 Abs. 1 SDÜ in dem dort beschriebenen zeitlichen Rahmen grundsätzlich als rechtmäßig dar, bleibt wie im deutschen Recht die Frage nach Bedeutung und Rechtsfolgen eines etwa bei ihr schon für den Zeitpunkt des Grenzübertritts feststellbaren Willens zur Eheschließung mit einem Deutschen und damit zum mehr als nur kurzfristigen Verbleib in Deutschland. Weder in der bisherigen Rechtsprechung des Senats noch vom Bundesverwaltungsgericht oder anderen Oberverwaltungsgerichten ist geklärt, welchen Einfluss ein solchermaßen überschießender Willen auf die Rechtmäßigkeit der Einreise und des Aufenthalts hat. Sehr viel spricht dafür, dass die Absicht, den Aufenthalt über die erlaubte Zeit hinaus auszudehnen, die Visumfreiheit und damit auch den erlaubnisfreien Kurzaufenthalt im Schengen-Gebiet entfallen lässt (so auch Westphal/Stoppa, aaO, S. 137). Die Kompetenz der EU umfasst nämlich nur Visa "für geplante Aufenthalte" von bis zu drei Monaten Dauer (Art. 62 Nr. 2 Bst. b Ziff. 1 EG), und das Visum ist als Genehmigung für die Einreise "zum Zwecke eines Aufenthalts" von bis zu drei Monaten definiert (Art. 2 EuVisaVO). Diese Wortlaute folgen aus der Begrenztheit des der EU zukommenden Regelungsumfangs, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er nur den Einreisevorgang und diesen nur für einen zeitlich begrenzten Aufenthaltszweck umfasst.

Nach alledem ist die Befreiung vom Genehmigungserfordernis für Einreise und Kurzaufenthalt nach Gemeinschaftsrecht davon abhängig, ob die Antragstellerin beim Überschreiten der EU-Außengrenzen (wahrscheinlich nach der Landung mit dem Flugzeug in Deutschland) bereits die spätere Eheschließung und damit einen längeren Aufenthalt in Deutschland beabsichtigt hat.

Hierzu fehlt es bisher an brauchbaren Anhaltspunkten. Insbesondere ist nicht festgestellt, ob die Antragstellerin ihre Wohnung und ggf. ihre Arbeitsstelle in Rumänien gekündigt und ob sie über den Reisebedarf hinaus Bekleidung, andere Gebrauchsgegenstände, Wertsachen und Urkunden sowie finanzielle Mittel mitgeführt hat. Ungeklärt ist auch, ob sie schon in Rumänien Heiratsvorbereitungen getroffen und hierfür notwendige Unterlagen nach Deutschland mitgebracht hat.

Auch wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Antragstellerin schon bei der Einreise einen längerfristigen Aufenthalt geplant hat, kann ihr nicht sofort eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, weil sie, wie Ausländerbehörde und Verwaltungsgericht richtig erkannt haben, für den Daueraufenthaltszweck der Führung ihrer Ehe im Inland ungeachtet der Art ihrer Einreise grundsätzlich der Visumpflicht unterliegt (§ 3 Abs.3 AuslG). Ob sich die Antragstellerin insoweit auf einen der in § 9 DV AuslG enumerativ aufgeführten Befreiungstatbestände berufen

kann, erscheint dem Senat nicht sicher. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts ist die dort in Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 enthaltene Regelung auf die Antragstellerin nicht anwendbar, weil sie nicht zu der Gruppe der Positivstaater zählt. Sie hat aber, wie. bereits ausgeführt, sehr wahrscheinlich durch ihre EheschlIeßung einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer ehebezogenen

Aufenthaltserlaubnis erworben (§§ 17, 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG), und insoweit kommt es auch nicht auf eine erlaubte Einreise an (§ 9 Abs.2 Satz 1 Nr. 1 DVAuslG). Es erscheint dem beschließenden Senat aber nicht sicher, ob der Aufenthalt der Antragstellerin die insoweit verlangten weiteren Anforderungen erfüllt. Ihr Aufenthalt war nämlich im Zeitpunkt des Antrags vom 30. Juni 2003 weder rechtmäßig noch gestattet noch geduldet im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 1 DV AuslG, und die damals bestehende Ausreisepflicht und die Abschiebungsandrohung vom 16. April 2003 waren zu diesem Zeitpunkt allem Anschein nach vollziehbar (§ 9 Abs. 2 Satz 2 DV AuslG). Insofern könnte sich aber nach dem Vorbringen im Beschwerdeverfahrens eine Änderung ergeben haben, die Anlass zur Aussetzung der Abschiebung aus Rechtsgründen und zur Erteilung einer Duldung jedenfalls für den gegenwärtigen Zeitpunkt gibt (§§ 55 Abs. 2, 56 a AuslG) und damit als Aufenthaltsgrundlage für eine Aufenthaltserlaubnis ohne Einhaltung des Visumverfahrens bietet (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 DV AuslG).

Ob der Antragstellerin bei Nichterfüllung der Voraussetzungen für eine ehebezogene Aufenthaltserlaubnis wegen Bestehens nicht selbst zu vertretender Abschiebungshindernisse eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden könnte oder müsste (§ 30 Abs. 3 AuslG), kann hier offen bleiben. Gerade beim Eingreifen absoluter Versagungsgründe kommt ein Rückgriff auf diese Vorschrift in Betracht (dazu BVerwG, 09,12.1 997 - 1 C 19.96-, BVerwGE 106, 13 = EZAR 020 Nr. 8). Dies kann aber nicht dahin verstanden werden, dass beim Nichtvorliegen der Voraussetzungen für den Nachzug (§§ 17, 18 AuslG) im Falle des Absehens vom Visumverfahren (§ 9 Abs. 2. DV AuslG) bei Ehegatten immer hilfsweise die Möglichkeit einer Aufenthaltsbefugnis zu prüfen ist. Denn zunächst ist zugrunde zu legen, dass der Gesetz- und der Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften den Anforderungen des Eheschutzes aus Art. 6 GG Genüge getan haben und nicht über den Umweg von Abschiebungshindernissen, die nur auf der Nichterfüllung der Nachzugsvoraussetzungen und der Unzumutbarkeit von Trennungszeiten beruhen, ein neuer Zuwanderungskanal für Ehegatten eröffnet wird. Ungeachtet dessen würde sich die von der Ausländerbehörde ausgesprochene und vom Verwaltungsgericht als rechtmäßig gewertete Ablehnung einer Aufenthaltsbefugnis bei summarischer Überprüfung ebenso wie die Versagung der Aufenthaltserlaubnis als fehlerfrei darstellen, wenn sich die Voraussetzungen für eine Duldung und damit für das Absehen vom Visumverfahren nicht nachweisen lassen.

Wie die Antragstellerin unter Berufung auf Telefonate mit Bediensteten des rumänischen Konsulats in Bonn schlüssig und nachvollziehbar darlegt, drohen ihr nämlich bei einer Rückkehr nach Rumänien wegen des ungenehmigten Auslandsaufenthalts empfindliche Sanktionen in der Weise, dass eine Ausreisesperre von mindestens einem Jahr verhängt und ihr Reisepass nicht verlängert wird. Ob dieses Vorbringen zutrifft, ist bisher nicht zureichend aufgeklärt.