BVerfG

Merkliste
Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 05.11.2003 - 2 BvR 1506/03 - asyl.net: M4387
https://www.asyl.net/rsdb/M4387
Leitsatz:

Ein jemenitischer Staatsangehöriger, dem von den USA Unterstützung des Terrorismus vorgeworfen wird, kann ausgeliefert werden; wird ein Ausländer durch Täuschung durch einen V-Mann des die Auslieferung ersuchenden Staates nach Deutschland gelockt und dort festgenommen, steht das der Auslieferung nicht entgegen; es kann darauf vertraut werden, dass die USA ihre völkerrechtliche Verpflichtung zur Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes einhalten.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Auslieferung, Auslieferungshindernis, Jemen, Vereinigte Staaten von Amerika, gesetzlicher Richter, allgemeine Regeln des Völkerrechts, Vorlageverfahren, Vorlagepflicht, Entscheidungserheblichkeit, V-Leute, Völkergewohnheitsrecht, faires Verfahren, Sachaufklärungspflicht, Menschenrechtslage
Normen: GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; GG Art. 100 Abs. 2; GG Art. 25; GG Art. 2 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

I. Die Rüge des Beschwerdeführers, in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt zu sein, weil das Oberlandesgericht entgegen Art. 100 Abs. 2 GG nicht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das Bestehen oder Nichtbestehen einer allgemeinen Regel des Völkerrechts eingeholt habe, führt im Ergebnis nicht zu einer Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen, da diese nicht auf einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 100 Abs. 2 GG beruhen.

1. Im Rechtsstreit des Auslieferungsverfahrens war zweifelhaft, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist. Es bestanden Zweifel hinsichtlich der Frage, welche Folgen es für ein Auslieferungsverfahren im ersuchten Staat hat, wenn der ersuchende Staat möglicherweise völkerrechtswidrig den Angehörigen einer dritten Staatsgewalt in den ersuchten Staat gelockt hat. Das Oberlandesgericht hat solche Zweifel thematisiert und selbst entschieden, anstatt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.

2. Eine Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 2 GG besteht nur, wenn die Zweifel entscheidungserheblich sind. Diese Voraussetzung ist ebenfalls erfüllt.

Sollte die Auslieferung des Beschwerdeführers auf Grund der Umstände, die zu seiner Festnahme in Deutschland geführt haben, gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts verstoßen, dann geböte Art. 25 GG die Einhaltung des Völkergewohnheitsrechts mit der Folge, dass Deutschland den Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet ausreisen lassen müsste, soweit nicht eine Strafverfolgung durch deutsche Behörden wegen eines möglichen Verstoßes gegen deutsche Strafbestimmungen in Betracht käme.

So könnte sich, wenn das Tätigwerden des jemenitischen V-Mannes im Auftrag der U.S.-amerikanischen Ermittlungsbehörden als völkerrechtswidrig einzuordnen wäre, hieraus möglicherweise ein Auslieferungshindernis auf deutscher Seite ergeben. Die Gebietshoheit eines Staates, die Ausdruck seiner Souveränität ist, verbietet grundsätzlich das hoheitliche Tätigwerden anderer Staaten oder Träger hoheitlicher Gewalt auf dem Territorium des betroffenen Staates. Dabei kann das Handeln von Privatpersonen einem Staat zugerechnet werden, wenn etwa die Handlung von diesem gesteuert wird.

3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen jedoch nicht auf dem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 100 Abs. 2 GG. Denn das Bundesverfassungsgericht wäre in einem Verifikationsverfahren zu dem Ergebnis gelangt, dass eine allgemeine Regel des Völkerrechts, wonach niemand ausgeliefert werden dürfe, der aus seinem Heimatstaat zwecks Umgehung des dortigen Auslieferungsverbotes mit List in den ersuchten Staat gelockt worden ist, jedenfalls für Fälle wie dem vorliegenden nicht besteht.

Da der erkennende Senat des Bundesverfassungsgerichts selbst der gesetzliche Richter ist, dem der Beschwerdeführer entzogen wurde – er wäre nach Art. 100 Abs. 2 GG, § 13 Nr. 12, § 14 Abs. 2 BVerfGG zuständig gewesen –, kann festgestellt werden, dass die angegriffenen Entscheidungen nicht anders hätten ausfallen dürfen, wenn Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beachtet worden wäre (vgl. BVerfGE 64, 1 21 f.>; 96, 68 86>).

b) Die Untersuchung der Staatenpraxis zeigt, dass die vom Beschwerdeführer behauptete allgemeine Regel des Völkerrechts nicht besteht. Die Rechtsprechung der Gerichte zu der Frage, ob das Herauslocken eines Verfolgten aus seinem Heimatstaat zu einem Auslieferungshindernis in dem ersuchten Aufenthaltsstaat wird, ist uneinheitlich. Die überwiegende Zahl der Entscheidungen sieht in den der Verhaftung vorausgehenden Umständen sogar kein Strafverfolgungshindernis im Gerichtsstaat.

aa) Keiner Entscheidung bedarf in diesem Zusammenhang, ob sich aus dem Völkergewohnheitsrecht ein nationales Strafverfahrens- oder Auslieferungshindernis ergibt, wenn der Verfolgte unter Anwendung von Gewalt aus seinem Heimatstaat in den Gerichtsstaat oder den ersuchten Staat verbracht wurde. Zwar deutet die neuere Staatenpraxis insbesondere infolge der Auseinandersetzung mit der Entscheidung des U.S. Supreme Court in dem Fall Alvarez-Machain (United States Reports, Vol. 504 1991/92>, 655 ff.) darauf hin, dass der Grundsatz male captus, bene detentus jedenfalls dann abgelehnt wird, wenn sich der Gerichtsstaat des Verfolgten unter schweren Menschenrechtsverletzungen bemächtigte und der in seiner Gebietshoheit verletzte Staat gegen ein solches Vorgehen protestiert hat (vgl. International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, Prosecutor v. Dragan Nikolic, Entscheidung vom 5. Juni 2003 – IT- 94- 2- AR73 -, Appeals Chamber, Ziff. 24 ff. unter Hinweis auf die Entscheidung des U.S. Federal Court of Appeals, United States v. Toscanino, 500 Federal Reporter, Second Series, 267 1974>; siehe auch Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen, 2000, S. 272 ff., 336 m.w.N.).

Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich jedoch in wichtigen Einzelheiten von

diesen Fallkonstellationen. Denn die Entscheidung des Beschwerdeführers, den Jemen zu verlassen, beruhte auf seinem freien Willensentschluss.

bb) Es lässt sich nicht feststellen, dass für diese Sachverhaltskonstellation sich eine völkerrechtliche Übung herausgebildet hat, die die Auslieferung als Verstoß gegen Völkergewohnheitsrecht erscheinen ließe.

Auch die Rüge einer Verletzung des Rechts auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren hat keinen Erfolg.

2. Das Oberlandesgericht hat in seinem Beschluss vom 18. Juli 2003 den Einsatz eines verdeckten Ermittlers im Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht als Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und Art. 1 Abs. 1 GG gewertet. Zur Verfolgung besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Straftaten wie beispielsweise solcher gemäß § 129, § 129a und § 129b StGB sei der Einsatz verdeckter Ermittler erforderlich und geboten. Die Staaten- und Völkerrechtsgemeinschaft müsse zur Bekämpfung schwerwiegender Straftaten weltweit handelnder terroristischer Organisationen auch mit außergewöhnlichen, grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen reagieren können. Ein Verfahrenshindernis sei nur in extrem gelagerten Ausnahmefällen anzunehmen; ein solcher liege hier nicht vor. Im Übrigen habe das Oberlandesgericht die Rechtmäßigkeit des weiteren Rechtshilfevorganges im Auslieferungsverfahren nicht zu prüfen.

3. Ungeachtet einer Entscheidung darüber, ob der Einsatz eines jemenitischen V-Mannes durch U.S.-amerikanische Strafverfolgungs- und Ermittlungsbehörden im Jemen prinzipiell an deutschen Grundrechten gemessen werden kann, ist diese Begründung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Der Einsatz von V-Leuten kann im Einzelfall notwendig sein, weil nur auf diesem Wege interne, nicht öffentlich verfügbare Informationen über den Aufbau terroristischer Organisationen, ihre Führungspersonen, ihre tatsächlichen - nicht nur die öffentlich deklarierten - Ziele sowie die Planung und Durchführung konkreter Maßnahmen erlangt werden können. Insbesondere können mittels geheimer Informanten Erkenntnisse über interne Äußerungen und mündliche Erörterungen innerhalb der Organisation gewonnen werden.

Der Beschwerdeführer ist nicht in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Das Oberlandesgericht hat die Auslieferung im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für zulässig erklärt. Dies gilt auch, soweit der Beschwerdeführer eine weitere Sachverhaltsaufklärung in Bezug auf angeblich rechtsstaatswidrige Verhörmethoden in den Vereinigten Staaten beantragt hatte. Das Oberlandesgericht hat dieses Vorbringen unter Hinweis auf fehlende Anhaltspunkte in der Praxis der Vereinigten Staaten zurückgewiesen. Diese Begründung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Sie steht zum einen im Einklang mit der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und anderen Staaten, insbesondere wenn dieser auf einer völkervertraglichen Grundlage durchgeführt wird, dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen ist. Dieser Grundsatz kann so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen erschüttert wird (Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juni 2003 – 2 BvR 685/03 -, Auslieferung nach Indien). Solche Tatsachen lagen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht vor.