Keine staatliche oder quasistaatliche Herrschaftsmacht im asylrechtlichen Sinne; § 53 Abs. 6 AuslG für Personen, die in Kabul nicht auf ein ihr Überleben sicherndes soziales Gefüge zurückgreifen können; Diabetes ist in Afghanistan nicht behandelbar.(Leitsatz der Redaktion)
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Er hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG.
Es kommt entscheidungserheblich nicht darauf an, ob der Kläger vorverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist ist, weil ihm zur Überzeugung der Kammer aus folgenden Gründen bei seiner Rückkehr nach Afghanistan weder mit beachtlicher noch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung bevorsteht.
In Afghanistan fehlt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt an einer Staatsmacht oder zumindest einer staatsähnlichen Herrschaftsmacht, von deren Seite dem Kläger eine solche politische Verfolgung drohen könnte (offen gelassen: OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 20.03.2003 - 20 A 4329/97; Hamburgisches OVG, U.v.11.04.2003 - 1 Bf 104/01 A.).
Voraussetzung staatlicher Verfolgung ist grundsätzlich die effektive Gebietsgewalt des Staates (vgl. BVerwG, U.v. 18.01.1994, BVerWGE 95, 42 ff.).
Afghanistan verfügt nach Auffassung des Gerichts gegenwärtig nicht über ein solches Herrschaftsgefüge in wenigstens einem Kernterritorium.
Nach den dem Gericht vorliegenden Unterlagen (insbesondere: Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan vom 06.08.2003; UNHCR-Stellungnahme zur Frage der Flüchtlingseigenschaft afghanischer Asylsuchender vom 23.04.2003; Aktualisierte Darstellung der Lage in Afghanistan des UNHCR vom September 2003; Bericht des Ländervertreters über die Tagung der Arbeitsgruppe EURASIL der Europäischen Union vom 07.05.2003; Gutachten des Dr. Mostafa Danesch vom 05.08.2003 an das Schleswig- Holsteinische Verwaltungsgericht) stellt sich die Situation in Afghanistan vielmehr wie folgt dar:
Nach dem Sturz der Taliban-Regierung existiert als "Träger der afghanischen Souveränität" nunmehr eine Übergangsregierung unter dem Präsidenten Hamid Karsai, gewählt in der Sonderratsversammlung im September 2002. Aus dieser Sonderratsversammlung ging ein Übergangsparlament hervor. Regierung und Parlament, welche zunächst bis zu für den Sommer 2004 geplanten regulären Wahlen tätig sein sollen, verfügen jedoch - zumindest außerhalb des bislang auf Kabul beschränkten Einflussbereiches der ISAF-Truppen - tatsächlich über keinerlei durchsetzbare Autorität und sind also nicht in der Lage eine übergreifende Ordnung herzustellen bzw. zu bewahren. In Afghanistan existieren weder eine funktionierende Verwaltung noch ein wirksamer Polizeiapparat, es gibt kein Justizwesen und (noch) keine Nationalarmee. Die meisten Bereiche des Landes außerhalb von Kabul werden als de-facto-Einflusszonen von Stammesfürsten, Kriegsherren und Drogenbaronen beherrscht und kontrolliert, welche sich dem Einfluss der afghanischen Regierung zumindest tatsächlich entziehen und in ihren jeweiligen Gebieten unabhängig von der Übergangsregierung schalten und walten. Andere Gebiete sind gekennzeichnet durch ein Machtvakuum und/oder Spannungen aufgrund des Wettstreites verschiedener Gruppierungen um die Vorherrschaft in diesen Gebieten.
Eine politische Verfolgung des Klägers erscheint aber auch dann, wenn man der Auffassung der Kammer dazu, dass in Afghanistan kein Staat im o.g. Sinne existiert, nicht folgt, weder beachtlich noch hinreichend wahrscheinlich. Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan in Anknüpfung an asylerhebliche Umstände gezielten Übergriffen von asylerheblichem Gewicht ausgesetzt sein könnte.
Die Kammer hält es nicht für wahrscheinlich, dass nunmehr von der Regierung Karsai s für den Kläger wegen dessen früherer herausgehobener Position die Gefahr einer solchen Verfolgung ausgehen könnte.
Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses im Sinne von § 53 Abs 6 Satz 1 AuslG.
Aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen ergibt sich, dass eine Abschiebung - bereits aus Gründen der einigermaßen ungefährdeten Erreichbarkeit - nur nach Kabul in den Einflussbereich der ISAF- Truppen möglich ist. Dorthin darf ein Ausländer zur Überzeugung des Gerichts jedoch nur abgeschoben werden, wenn er in ein soziales Gefüge (insbesondere Familie) aufgenommen werden kann, welches ihm Schutz und Unterstützung bietet, weil anderenfalls sein Überleben gefährdet ist. Nach übereinstimmenden Informationen (insbesondere: Lagebericht des AA vom 06.08.2003; Gutachten Dr. Bernt Glatzer an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 27.08.2002; Bericht des Ländervertreters über die Tagung der Arbeitsgruppe EURASIL der Europäischen Union vom 07.05.2003) ist es dem Einzelnen in Afghanistan nämlich aus eigener Kraft nicht möglich, sich einen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen oder sonst zu sichern. Soziale Sicherheit gibt es nicht einmal ansatzweise. Dank internationaler Hilfskräfte werden (allerdings auch nur) in und um Kabul Lebensmittel an Bedürftige verteilt. In Kabul ist es aber praktisch unmöglich, Unterkunft und Heizmaterial zu bekommen. Beides ist zumindest im anstehenden Winter überlebenswichtig. Kabul ist überlaufen und kann jedenfalls nicht noch für weitere Flüchtlinge als Fluchtalternative betrachtet werden. Nach den überzeugenden Angaben des Klägers kann er nicht auf ein solches seine Heimkehr und sein Überleben in Kabul sicherndes soziales Netz zurückgreifen. Hinzu kommt, dass der Kläger an Diabetis leidet. Da diese dauerhaft behandlungsbedürftige Erkrankung nach Kenntnis des Gerichts in Afghanistan nicht behandelbar ist, steht dies auch seiner Abschiebung nach Afghanistan entgegen.