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BVerwG, Urteil vom 09.09.2003 - 1 C 6.03 - asyl.net: M4431
https://www.asyl.net/rsdb/M4431
Leitsatz:

Eigenschaft als "Ehegatte" im Sinne des § 9 RuStAG (jetzt StAG) nicht entgegen.

2. Bei einer sog. Scheinehe ist eine positive Ausübung des Einbürgerungsermessens

regelmäßig ausgeschlossen.

3. Die Rücknahme der - von einem Elternteil durch bewusste Täuschung erwirkten -

(Mit-)Einbürgerung eines minderjährigen Kindes, die auf der Grundlage des § 8

RuStAG zu einer einheitlichen Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie führen sollte,

erfordert eine eigenständige Ermessensentscheidung nach § 48 Abs. 1 Satz 1

LVwVfG.

Schlagwörter: D (A), Einbürgerung, Ermessenseinbürgerung, Rücknahme, Deutschverheiratung, Getrenntleben, Falschangaben, Täuschung, Scheinehe, Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit, Staatenlose, Kinder, Miteinbürgerung, Zurechenbarkeit
Normen: RuStAG § 9; RuStAG § 8; LVwVfG § 48; GG Art. 16 Abs. 1
Auszüge:

Die Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid, der allein hinsichtlich der Rücknahme der Einbürgerung der Kläger Gegenstand der Revision ist, bildet § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Baden-Württemberg (Landesverwaltungsverfahrensgesetz - LVwVfG).

Wie der Senat durch Urteil vom 3. Juni 2003 - BVerwG 1 C 19.02 - (zur Aufnahme in die Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) entschieden hat, sind mangels einer abschließenden spezialgesetzlichen Regelung im Staatsangehörigkeitsrecht zum Wegfall der Staatsangehörigkeit die allgemeinen Rücknahmevorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze - hier: § 48 L VwVfG - im Falle einer von vornherein rechtswidrigen Einbürgerung jedenfalls dann anzuwenden, wenn die Einbürgerung durch bewusste Täuschung erwirkt worden ist. Das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Verfassungsprinzip der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns erfordert jedenfalls bei einer derart "erschlichenen" Einbürgerungsentscheidung eine Korrekturmöglichkeit. Der Rücknahme einer derart erwirkten Einbürgerung steht nicht das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG verankerte Verbot der Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit entgegen. Auch schließt das in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltene Verbot des Verlusts der Staatsangehörigkeit gegen den Willen des Betroffenen bei Eintritt von Staatenlosigkeit grundsätzlich nicht die Rücknahme einer durch Täuschung erlangten Einbürgerung aus (vgl. zu den Einzelheiten Urteil vom 3. Juni 2003 - BVerwG 1 C 19.02 -).

Nach diesen Grundsätzen ist der angegriffene Bescheid hinsichtlich der Rücknahme der - durch bewusste Täuschung erwirkten - Einbürgerung des Klägers rechtmäßig. Er entspricht insoweit den Anforderungen von § 48 LVwVfG. Die Einbürgerung des Klägers erweist sich als rechtswidrig, weil der Beklagte einen in wesentlicher Hinsicht unzutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt und deshalb eine Versagung der Einbürgerung nach § 9 RuStAG nach den oben dargestellten Grundsätzen nicht in Betracht gezogen hat. Er ging nämlich von einer (fortbestehenden) ehelichen Lebensgemeinschaft und einer nicht nur zum Schein geschlossenen Ehe des Klägers aus. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts handelte es sich aber um eine Scheinehe; der Kläger hat eine eheliche Lebensgemeinschaft mit Frau T. aufgrund vorgefasster Absicht nie aufgenommen. An diese Feststellungen ist das Revisionsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO gebunden, da von der Revision, die sich ausdrücklich nicht gegen die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts richtet, keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgebracht sind. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Beweislastregeln rügt, geht dies fehl. Eine Frage der (materiellen) Beweislast würde sich nur in dem - hier offensichtlich nicht gegebenen - Fall der Nichterweislichkeit entscheidungserheblicher Tatsachen stellen. Eine formelle Beweislast kennt der vom Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte Verwaltungsprozess nicht (vgl. zuletzt etwa Beschluss vom 24. Juli 2001 - BVerwG 1 B 123.01 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 35 und Urteil vom 29. Juni 1999 - BVerwG 9 C 36.98 - BVerwGE 109, 174 177 ff., 180>).

Ebenfalls fehl geht der Einwand der Revision, die Annahme einer Scheinehe durch das Berufungsgericht stelle einen verfassungswidrigen Eingriff in das Recht der Eheleute dar, Art und Umfang ihrer ehelichen Beziehungen selbst zu bestimmen. Damit greift die Revision der Sache nach die insoweit vorgenommene Beweiserhebung und -würdigung des Berufungsgerichts an, ohne insoweit einen revisionsrechtlich beachtlichen Fehler aufzuzeigen. Soweit der Wille der Ehepartner, die Ehe im Bundesgebiet zu führen, für den aufenthaltsrechtlichen Schutz oder - wie hier - für die Einbürgerung wesentlich ist, sind Behörden und Gerichte bei berechtigtem Anlass zu der Prüfung befugt, ob dieser Wille nur vorgeschützt ist (Urteil vom 23. Mai 1995 - BVerwG 1 C 3.94 - BVerwGE 98, 298 306>). Dies darf freilich nur unter Wahrung der Verfassungsgebote geschehen, die Menschenwürde und die Intimsphäre des Betroffenen zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG). Dass das Berufungsgericht hiergegen verstoßen hat, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist davon auszugehen, dass der Kläger seine Einbürgerung durch bewusste Täuschung erlangt hat. Das folgt schon daraus, dass die Eheschließung ausschließlich die Sicherung des weiteren Aufenthalts des Klägers in Deutschland bezweckte und eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht beabsichtigt war und auch nicht aufgenommen wurde. Er hat den Beklagten bei der Einbürgerung dadurch bewusst getäuscht, dass er im Antragsformular bei der Frage nach seinem Familienstand lediglich "verheiratet" und nicht zumindest zugleich "getrennt lebend" angekreuzt hat. Zutreffend ist deshalb das Berufungsgericht von einer "erschlichenen" Einbürgerung ausgegangen. Auch der Beklagte hat danach den angefochtenen Bescheid zu Recht darauf gestützt, dass der Kläger seine Einbürgerung mittels arglistiger Täuschung erschlichen hat. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts liegen die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 und 2 L VwVfG vor.

Der Beklagte hat sein nach § 48 Abs. 1 Satz.1 LVwVfG eröffnetes Ermessen bezogen auf den Kläger in dem angefochtenen Rücknahmebescheid rechtsfehlerfrei betätigt.

Die Rücknahme des ermessensfehlerhaft ergangenen Einbürgerungsbescheids setzt, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, voraus, dass die Behörde ihr Ermessen hinsichtlich des zurückzunehmenden Verwaltungsakts nunmehr inzident fehlerfrei ausübt. Bei Vorliegen einer Scheinehe fehlen in aller Regel - und so auch hier - Gesichtspunkte, die eine für den Einbürgerungsbewerber positive Ausübung des Ermessens rechtfertigen könnten. Ein Ermessensspielraum zugunsten einer Einbürgerung des Klägers bestand daher nicht; Ermessenserwägungen bei der Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung waren insoweit entbehrlich.

Dies bedeutet indessen nicht, dass auch das Rücknahmeermessen "auf Null" reduziert war. Der Beklagte hat sein Rücknahmeermessen noch hinreichend ausgeübt. Er ist in dem angefochtenen Bescheid ausdrücklich von einer Ermessensentscheidung nach § 48 LVwVfG ausgegangen und hat - angesichts des Vorliegens der Voraussetzungen von § 48 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 und 2 LVwVfG zutreffend - dargelegt, dass sich der Kläger nicht auf Vertrauensschutz berufen kann. Private Belange des Klägers sind - bezogen auf die Frage einer Rückkehr in die Türkei - ausreichend mit der Erwägung erörtert worden, sie werde ohne Probleme möglich sein, da vollkommen intakte familiäre Beziehungen zur Türkei bestünden. Zudem hat der Beklagte - den Anforderungen des erwähnten Senatsurteils vom 3. Juni 2003 entsprechend (BVerwG 1 C 19.02) - das verfassungsrechtliche Gebot aus Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG, Staatenlosigkeit möglichst zu vermeiden, in seine Erwägungen einbezogen. Es sei der Auskunft des Generalkonsulats Istanbul vom 19. April 1999 zufolge höchst wahrscheinlich, dass er die türkische Staatsangehörigkeit bereits wieder angenommen habe; jedenfalls könne er diese wieder erhalten, so dass er durch die Rücknahme der Einbürgerung nicht dauerhaft staatenlos werde.

Soweit der angegriffene Bescheid die Rücknahme der Einbürgerung der Klägerin - der Tochter des Klägers - betrifft, ist er rechtswidrig und verletzt diese in ihren Rechten.

Die offenbar auf der Grundlage von § 8 RuStAG i.V.m. den Einbürgerungsrichtlinien vom 1. Juli 1977 (veröffentlicht mit Rundschreiben des BMI vom 15. Dezember 1977, GMBI. 1978, S. 16) erfolgte Einbürgerung der Klägerin war zwar ebenfalls von Anfang an rechtswidrig im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 L VwVfG. Ein Erstreckungserwerb nach § 16 Abs. 2 RuStAG fand nicht statt, wie sich aus der Einbürgerungsurkunde des Klägers ergibt. Zur Herstellung einer einheitlichen Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie sahen die genannten hier herangezogenen Richtlinien die erleichterte Miteinbürgerung minderjähriger Kinder vor (Nr. 4.1 i.V.m. Nr. 3.2.2.5). Zwischen der Einbürgerung des Klägers und derjenigen der damals elfjährigen Klägerin bestand mithin ein enger Zusammenhang. Auch ihrer Einbürgerung legte der Beklagte - insoweit bezogen auf die Ermessensentscheidung nach § 8 RuStAG - einen unzutreffenden Sachverhalt, nämlich eine nicht nur zum Schein geschlossene Ehe des Klägers zugrunde, weshalb sich auch diese Einbürgerung als rechtswidrig erweist.

Die Einbürgerung der Klägerin war auch durch bewusste Täuschung erwirkt worden. Insoweit muss sich die Klägerin das Verhalten des Klägers als ihres gesetzlichen Vertreters zurechnen lassen.

Der Beklagte hat aber das ihm nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnete Rücknahmeermessen hinsichtlich der Klägerin fehlerhaft betätigt.

Im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist eine eigenständige Ermessensentscheidung zu treffen hinsichtlich der Rücknahme der - von einem Elternteil durch bewusste Täuschung erwirkten - (Mit-)Einbürgerung eines minderjährigen Kindes, die auf der Grundlage des § 8 RuStAG zu einer einheitlichen Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie hatte führen sollen. Dabei ist namentlich zu berücksichtigen, ob das Kind an der Täuschung beteiligt war oder ihm eine eigenständige Täuschungshandlung vorzuwerfen ist. Darüber hinaus sind etwaige eigene schutzwürdige Belange des Kindes in die Ermessenserwägungen einzustellen. Dies gilt umso mehr, je älter das Kind ist und je besser es sich in die deutschen Lebensverhältnisse integriert hat. Diesen Belangen ist das öffentliche Interesse an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts mit dem ihm zukommenden besonderen Gewicht gegenüberzustellen (vgl. Urteil vom 3. Juni 2003 - BVerwG 1 C 19.02).

Diesen Anforderungen genügt die in Rede stehende Ermessensentscheidung nicht.