VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 22.09.2003 - 12 UE 2351/02.A - asyl.net: M4434
https://www.asyl.net/rsdb/M4434
Leitsatz:

Verfolgungsgefahr in der Türkei wegen prokurdischer exilpolitischer Betätigung nur für exponierte Mitglieder einer staatsfeindlichen Gruppe mit einem gewissen Bekanntheitsgrad innerhalb oder außerhalb dieser Gruppe (st. Rspr).(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Nachfluchtgründe, Objektive Nachfluchtgründe, Sippenhaft, Verwandte, Geschwister, Exilpolitische Betätigung, Medienberichterstattung, Überwachung im Aufnahmeland, Innenminister-Briefwechsel, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Ferner haben die Kläger bei einer Rückkehr nicht deshalb politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, weil sich der Bruder des Klägers zu 1.,(...)., im (...)an einer sogenannten Autobahnblockade beteiligt hat, deswegen strafrechtlich verurteilt worden ist und über dieses Ereignis sowohl im deutschen als auch im türkischen Fernsehen ausführlich berichtet worden ist, ferner auch nicht deshalb, weil der Bruder Teilnehmer einer Aktion zur Besetzung des Kurdistan-Zentrums in (...)t mit Hungerstreik (...) gewesen, auf einem Lichtbild in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom (...)dargestellt worden ist und in der Zeitung(...) eine Todesanzeige für den als Guerillakämpfer verstorbenen Cousin (...). mit seinem Namen veröffentlicht hat.

Der Senat ist davon überzeugt, dass türkische Stellen und insbesondere der türkische Geheimdienst - MIT - vor allem politisch aktive, oppositionelle und staatsfeindliche Organisationen wie die PKK und ihre Unterstützungsgruppen im Ausland besonders aufmerksam beobachten und dabei in den letzten Jahren vermutlich bundesweit Informationen über pro-kurdische Widerstandsgruppen und Demonstrationen gesammelt und ausgewertet haben und dass dies auch gegenwärtig noch andauert. Die Aufmerksamkeit gilt vor allem Aktionen, die größeres Aufsehen erregen, wie etwa die Besetzung türkischer Einrichtungen im Ausland, aber auch kulturellen Aktivitäten, die sich nach Auffassung der türkischen Behörden gegen den türkischen Staat richten. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes gilt das Interesse des türkischen Staates dabei dem Personenkreis, der als Auslöser als separatistisch oder sonst staatsgefährdend erachteter Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen wird oder wenn durch diese Straftatbestände verwirklicht werden. Da der MIT über ein relativ dichtes Informationsnetz verfügt, wird es ihm ermöglicht, sowohl Auskünfte über Gruppierungen, die sich für ein unabhängiges Kurdistan einsetzen, als auch Auskünfte über Einzelpersonen einzuholen. Dies geschieht sowohl über Mittelsmänner als auch durch Film- und Videoaufnahmen, die bei bestimmten Aktionen unter anderem von Mitarbeitern der türkischen Auslandsvertretungen angefertigt werden oder die sich türkische Stellen von kurdischen Organisationen besorgen und auswerten. Nicht genau bekannt ist, auf welche Aktivitäten sich das Interesse türkischer Stellen im einzelnen richtet und welche Informationen tatsächlich an die Sicherheitsbehörden in der Türkei weitergeleitet werden. In der Vergangenheit konnte auf Grund der intensiven Anwerbung von Spitzeln und der hieraus folgenden Aktivitäten des MIT jedoch davon ausgegangen werden, dass dieser versucht hat, alle relevant erscheinenden, als oppositionell eingeschätzten Organisationen intensiv zu durchdringen und Daten über beruflichen Kontakt von Spitzeln zu Landsleuten, Auswertung von Bildmaterial und Publikationen zu sammeln, wenn sie sein Interesse erweckt hatten, und zwar vor allem über die jedermann zugänglichen Publikationen solcher Organisationen. Umfang und Intensität dieser Beobachtungen und Aufzeichnungen sollen allerdings abgenommen haben. Diejenigen Personen, die auf einer Veranstaltung oder Kundgebung Reden gehalten oder in einer Zeitung oder Zeitschrift veröffentlicht haben und damit gemäß türkischen Strafgesetzen einen Straftatbestand erfüllt haben, laufen Gefahr, bei Rückkehr angeklagt und verurteilt zu werden.

Besonders beobachtet und überwacht werden diejenigen, die eine leitende Funktion bei exilpolitischen Aktivitäten übernehmen oder in politischen Kreisen bekannt und einflussreich sind wie etwa Führer politischer Parteien, Vorsitzende und einflussreiche Personen größerer Organisationen. Es ist aber nicht zu erwarten, dass diejenigen besonders beobachtet und überwacht werden, die sich an solchen Aktivitäten beteiligen, ohne im Vordergrund zu stehen oder leitende Funktionen zu übernehmen. Die Teilnahme an großen Demonstrationen von Kurden erweckt für sich noch nicht den Verdacht einer subversiven Tätigkeit oder einer nach Inkrafttreten des Antiterrorgesetzes von 1991 strafbaren separatistischen Propaganda. Ebenso verhält es sich mit der Teilnahme an Newroz-Demonstrationen, Autobahnblockaden oder Zuschriftenaktionen anlässlich der Aufhebung der Immunität von DEP-Abgeordneten im Jahre 1994. Auch allein wegen der Beteiligungen an sogenannten "Selbstbezichtigungskampagnen" der PKK/KADEK in Westeuropa ist nach Angaben des Auswärtigen Amts bisher kein Fall bekannt geworden, in dem es zu Schwierigkeiten mit türkischen Sicherheitskräften gekommen ist. Aktivitäten wie Mitgliedschaft in Exilvereinen oder deren Vorstand, vor allem mit türkeifeindlicher Tendenz und politischer Ausrichtung, werden ebenso beobachtet und erfasst wie Besetzungsaktionen und Demonstrationen; in der Regel werden aber Identifizierungen von Teilnehmern, die auf Bildaufnahmen zu sehen sind, nicht ausgewertet, da sie als Beweismittel für Strafverfolgungsbehörden meistens wenig ergiebig sind. Davon ist vor allem bei aktiven Unterstützern der PKK auszugehen, die von türkischen Behörden wegen der nationalen Interessen zuwiderlaufenden Tätigkeit als in hohem Maße gefährlich eingestuft wird und die in Deutschland seit Verfügung des Bundesinnenministeriums vom 22. November 1993 verboten ist. Dieses Verbot erstreckt sich auch auf die als Nachfolgeorganisation angesehene KADEK. Diejenigen Personen, die vom Ausland aus in Organisationen tätig waren, die in der Türkei verboten sind, laufen nach Angaben des Auswärtigen Amts bei Rückkehr Gefahr, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen; insbesondere, wenn sie in herausgehobener oder jedenfalls erkennbarer Stellung für eine solche Organisation gearbeitet haben.

Nach alledem ist zugrunde zu legen, dass für die PKK regelmäßig aktiv Tätige den türkischen Sicherheitsbehörden bekannt werden können. Über konkrete Fälle, in denen Rückkehrer wegen ihrer exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland festgenommen und verfolgt wurden, wird in den zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen jedoch nicht oder nur vereinzelt und pauschal berichtet. 0berdiek benennt einige Fälle von Verhaftungen und/oder Anklagen nach Rückkehr in die Türkei, in denen auch Aktivitäten in Deutschland zur Begründung von Straftaten nach dem ATG herangezogen wurden, ohne jedoch darstellen zu können, wie die türkischen Behörden an diese Kenntnisse gelangt sind. In einem der angeführten Fälle lag dem Gericht in der Türkei ein Zeitungsbericht mit Foto vor, auf dem auch der Angeklagte des Verfahrens zu erkennen war. Amnesty international hat zwei solcher Fälle dokumentiert, in denen den Betroffenen nach Abschiebung und Festnahme in der Türkei vorgeworfen wurde, an der Besetzung eines türkischen Generalkonsulats beziehungsweise an der Sammlung von Spenden und Veranstaltungen teilgenommen zu haben. Auch der Niedersächsische Flüchtlingsrat führt in einer Dokumentation Fälle an, in denen den Betroffenen die Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen in Deutschland vorgehalten wurde, wobei die Kenntnisse teilweise aus Denunziationen resultierten.

Aufgrund dieser Auskunftslage nimmt der Senat in ständiger Rechtsprechung an, dass untergeordnete politische Betätigungen in Deutschland türkischen Sicherheitskräften in der Regel nicht bekannt werden und deshalb nicht zu Ermittlungen und Verfolgungsmaßnahmen in der Türkei führen. Eine politische Verfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten in Deutschland droht demgemäß erst dann mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit, wenn diese Betätigung für die kurdische Sache in hervorgehobener Weise erfolgt und den türkischen Sicherheitskräften bekannt geworden ist. Dies kommt regelmäßig erst dann in Betracht, wenn der Aktivist als exponiertes Mitglied einer staatsfeindlichen Gruppe innerhalb oder außerhalb dieser Gruppe einen Bekanntheitsgrad erlangt, der die Aufmerksamkeit eines möglichen Spitzels innerhalb der Gruppe oder von Mitarbeitern des türkischen Geheimdienstes außerhalb der Gruppe erregt. Es muß sich also bei ihm um einen exponierten Regimegegner handeln (vgl. dazu grundsätzlich: Hess. VGH, 23.11.1992 - 12 UE 2590/89 -, 24.01.1994 -12 UE 200/91 -,05.02.1996 - 12 UE 4176/95 -; im Ergebnis ebenso: VGH Baden-Württemberg, 22,07.1999 - A 12 S 1891/97 -, 07.10.1999 - A 12 S 1021/97 -, 05.04.2001 - A 12 S 198/00 -; OVG Hamburg, 05.04.1994 - Bf V 12/92 -; Niedersächsisches OVG, 05.11.1998 - 11 L 1599/96 - und 16.05.1995 - 11 L 6012/91 -; OVG Rheinland-Pfalz, 11.06.1999 - 10 A 11424/98.0VG -, 09.03.2001 - 10 A 11679/00 -; OVG des Saarlandes, 28.06.1996 - 9 R 80/93- und 26.06.1996 - 9 R 70/92 -, 27.11.2000 - 9 Q 243/99 -; OVG Nordrhein-Westfalen, 28.10.1998 - 25 A 1284/96 -, 15.09.1999 - 8 A 2285/99.A -; OVG Bremen, 12.12.1997 - 2 BA 78/94 -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, 22.04.1999 - 3 L 3/95 -); eine bloße Teilnahme an Vereinsversammlungen und Demonstrationen genügt dagegen nicht.

Zu den exilpolitischen Aktivitäten des Bruders (...) ist rechtskräftig durch das Verwaltungsgericht (...), dessen Akten beigezogen worden sind, festgestellt worden, dass dieser Bruder selbst wegen seiner Aktivitäten nicht bei Rückkehr von politischer Verfolgung bedroht wird. Gegen diese Feststellungen haben die Kläger bereits nichts vorgebracht. So kann erst recht nicht angenommen werden, dass die nunmehr acht bis neun Jahre zurückliegenden vorgetragenen Aktivitäten des Bruders bei einer Rückkehr der Kläger im heutigen Zeitpunkt dazu führen, dass die Kläger in das Visier der türkischen Sicherheitskräfte geraten könnten, insbesondere dass sie bei den Rückkehrkontrollen auffallen und der politischen Polizei überstellt werden könnten. Ferner ist auch kein Interesse der türkischen Sicherheitsbehörden an Informationsgewinnung über den Bruder mit Hilfe der Kläger erkennbar, weil die vorgetragenen Aktivitäten des Bruders so lange zurückliegen und von aktuellen hervorgehobenen exilpolitischen Aktivitäten des Bruders nichts vorgetragen oder sonstwie bekannt ist. Soweit die Kläger angegeben haben, der Vater des Klägers zu 1. sei nach ihrer Ausreise mehrmals auf der Karakolwache in M. nach dem Verbleib seiner Söhne, nämlich des Klägers zu 1. und des Bruders M. M. A. befragt und seine Söhne seien als Terroristen bezeichnet worden, ist nicht erkennbar, dass diese Befragungen durch die örtlichen Sicherheitskräfte zu einer Registrierung oder landesweiten Befassung der Behörden mit dem Kläger zu 1. oder seinem Bruder geführt haben könnten.

Eine Verfolgungsgefahr ergibt sich weiter auch nicht aus der Tatsache, dass die Familie der Kläger mit der Familie des Herrn (...)., einem führenden Europavertreter der ERNK, befreundet ist und der Kläger zu 1. auf einem Foto zusammen mit Herrn (...). und einem weiteren führenden Europavertreter der ERNK, Herrn (...) abgebildet ist. Hierfür fehlt es schon an jeglichen Anhaltspunkten oder Darlegungen dafür, dass diese Beziehungen dem türkischen Geheimdienst oder anderen türkischen Behörden bekannt geworden sind.

Die Kläger können weiter auch nichts für sich aus dem von ihnen vorgetragenen Umstand herleiten, dass sie aus einer patriotischen Großfamilie stammen, teilweise Verwandte von ihnen als "Märtyrer" gefallen sind und Verwandte von ihnen in Deutschland als politisch Verfolgte anerkannt worden sind.

In die Türkei zurückkehrende kurdische Volkszugehörige werden nicht allein deswegen verfolgt, weil Verwandte im Ausland als Asylberechtigte anerkannt sind oder dort ein Asylverfahren betreiben. Es gibt jedoch Berichte darüber, dass der Ehegatte eines in Deutschland politisch aktiven Asylbewerbers bei einer Rückkehr in die Türkei ebenfalls mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen muss, dass insbesondere gegen Frauen mittels entwürdigender Übergriffe vorgegangen wird und dass von derartigen Beeinträchtigungen auch die Familienangehörigen von Verschwundenen und von Asylberechtigten betroffen sind. Vor allem wenn ein Familienangehöriger in der Türkei polizeilich gesucht wird, ist von einem Ermittlungsinteresse auszugehen, das eine Festnahme von Verwandten begründen kann. Kaya sieht es für denkbar an, dass die Mutter eines in Deutschland als asylberechtigt Anerkannten mit von Zeit zu Zeit erfolgenden Belästigungen durch die Sicherheitskräfte rechnen muss. Unmittelbar bei der Rückkehr besteht die Gefahr einer Festnahme wegen PKK-Aktivitäten Verwandter nach Auskunft von Kaya nicht, da den Grenzstationen keine Listen derjenigen, die sich der Guerilla angeschlossen haben, mitgeteilt werden und dies auch bei den üblichen Nachforschungen nicht bekannt werden dürfte. Allerdings kann dies bei Rückkehr in die Heimatgemeinde durch dortige Nachforschungen bekannt werden und zur Festnahme führen.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze haben die Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass ihnen wegen der Aktivitäten von Verwandten in der Türkei oder im Hinblick auf die Gewährung von Asyl oder Flüchtlingsschutz für weitläufigere Verwandte in Deutschland politische Verfolgung droht. Es fehlt an Anhaltspunkten dafür, dass die Sicherheitskräfte auch überregional einen Zusammenhang zwischen diesen lediglich entfernteren Verwandten und den Klägern herstellen könnten. Dies gilt auch für Verwandte, die ebenfalls den Namen A. tragen.