VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 21.11.2003 - 10 UZ 984/03.A - asyl.net: M4461
https://www.asyl.net/rsdb/M4461
Leitsatz:

Keine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung wegen Fragen nach der weiteren Relevanz von Verfolgungsmaßnahmen durch das Baath-Regime im Irak, da diese nicht mehr entscheidungserheblich sind; ein Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung kann nur dann auf neue tatsächliche Verhältnisse gestützt werden, wenn diese einer grundsätzlichen Klärung im Berufungsverfahren zugänglich und bedürftig sind.

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Entscheidungserheblichkeit, Irak, Antragstellung als Asylgrund, Illegale Ausreise, Interne Fluchtalternative, Änderung der Sachlage, Politische Entwicklung, Widerrufsverfahren, Folgeantrag
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1
Auszüge:

Keine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung wegen Fragen nach der weiteren Relevanz von Verfolgungsmaßnahmen durch das Baath-Regime im Irak, da diese nicht mehr entscheidungserheblich sind; ein Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung kann nur dann auf neue tatsächliche Verhältnisse gestützt werden, wenn diese einer grundsätzlichen Klärung im Berufungsverfahren zugänglich und bedürftig sind.

(Leitsatz der Redaktion)

Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr.1 AsylVfG hat eine Rechtsstreitigkeit nur dann, wenn sie eine rechtliche oder eine tatsächliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich ist und über den Einzelfall hinaus im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung einer Klärung bedarf (BVerwG, 31.07.1984 - 9 C 46.84 - BVerwGE 70, 24 = EZAR 633 Nr. 9; HessVGH, 27.12.1982 - X TE 29/82 -, EZAR 633 Nr.4 = NVwZ 1983,237; HessVGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 - EZAR 633 Nr. 13). Die Rechts- oder Tatsachenfrage muss allgemein klärungsbedürftig sein und nach Zulassung der Berufung anhand des zugrunde liegenden Falles mittels verallgemeinerungsfähiger Aussagen geklärt werden können. Für die Frage der Klärungsbedürftigkeit und der Klärungsfähigkeit einer vom Antragsteller aufgeworfenen allgemeinen Frage ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der obergerichtlichen Entscheidung über den Zulassungsantrag abzustellen (HessVGH, Beschluss vom 30. Januar 1998 - 14 TZ 2416/97 -, NVwZ 1998, 755 ff.; Senatsbeschluss vom 29. Juli 2003 - 10 UZ 2084/02.A).

Gemessen daran ist die vom Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten aufgeworfene Frage ("Sind Flüchtlinge aus dem Zentralirak ... allein wegen ihrer illegalen Ausreise ..., ihres Asylgesuchs ... von politischer Verfolgung bedroht, sobald sie in ihre Heimat zurückgekehrt sind?") angesichts der grundlegend geänderten Verhältnisse im Irak nach dem 2. Golfkrieg nicht mehr entscheidungserheblich.

Auch die vom Bundesbeauftragten für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Frage ("Hat der Einmarsch der alliierten Streitkrafte in den Zentralirak... die Ausübung einer übergreifenden staatlichen Herrschaftsgewalt durch die derzeitigen Potentaten in Bagdad gegenwärtig schon soweit reduziert, dass jetzt bei realistischer Einschätzung der Lage auch die Voraussetzungen für die Annahme einer politischen Verfolgung wegen illegaler Ausreise und Asylantragstellung zu verneinen sind..."), führt nicht zur Berufungszulassung.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die geltend gemachte Veränderung der Sachlage nach der Entscheidung der ersten Instanz grundsätzlich auch im Rahmen des Berufungszulassungsverfahrens zu berücksichtigen ist. Der beschließende Senat hält die vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim (siehe Urteil vom 31. März 1993 - A 13 S 3048/92 -, EZAR 633 Nr. 21 sowie Beschluss vom 4. Juli 2000 - A 9 S 1275/00 -, VBlBW 2001, 66 ff.) und von der Kommentarliteratur ( Berlit in : GK-AsylVfG, Stand April 1998, § 78 Rdnr. 142 ff. m.w.N.; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 78 AsylVfG Rdnr. 12) vertretene Auffassung für zutreffend, wonach es nicht von vornherein ausgeschlossen ist, in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz den Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache auf neue tatsächliche Verhältnisse zu stützen. Es ist unerheblich, dass das Verwaltungsgericht die betreffende Tatsachenfrage bei seiner Entscheidung nicht schon klären konnte, § 78 Abs. 3 AsylVfG enthält - keine zeitliche Sperre (VGH Mannheim, Urteil vom 31. März 1993, a.a.O.). Allerdings kann die auf neue Tatsachen gestützte Grundsatzrüge nur dann erfolgreich sein, wenn die neuen tatsächlichen Verhältnisse einer grundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren zugänglich und auch noch bedürftig sind (VGH Mannheim, Beschluss vom 4. Juli 2000, a.a.O.; GK-AsylVfG, a.a.O.). Dies ist jedoch - wie sich aus dem oben Ausgeführten bereits ergibt - im vorliegenden Fall zu verneinen, da nach dem Sturz von Saddam Hussein eine grundlegend veränderte Verfolgungssituation eingetreten ist, von deren Dauerhaftigkeit zumindest auf längere Sicht auszugehen ist.

Somit bedarf auch die vom Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten des Weiteren für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage, ob "grundlegende Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsstaat des Asylsuchenden, die nach dem Zeitpunkt der Urteilsfällung, aber noch vor deren Rechtskraft eingetreten sind, bereits mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung geltend gemacht werden müssen oder allein einem späteren Widerrufsverfahren gemäß

§ 73 AsylVfG vorbehalten sind", keiner rechtsgrundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren. Der Bundesbeauftragte hat in seinem Zulassungsantrag vom 7. April 2003 auf Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse im Irak hingewiesen, die zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht als grundlegend bezeichnet werden konnten. Dass die Grundsatzrüge auch auf neue tatsächliche Umstände gestützt werden kann, wurde oben des Näheren ausgeführt. Die Alternative lautet allerdings - aus der Sicht eines Asylsuchenden und Zulassungsantragstellers - nicht "Geltendmachung im Rahmen eines Antrags auf Zulassung der Berufung" oder "Widerrufsverfahren nach § 73 AsylVfG", sondern "Geltendmachung im Rahmen eines Antrags auf Zulassung der Berufung" oder "Geltendmachung mit einem Folgeantrag nach § 71 AsylVfG" (siehe dazu auch VGH Mannheim, Beschluss vom 11. Januar 1994 - A 14 S 2163/93 -).