OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.04.2003 - 1 LB 212/01 - asyl.net: M4465
https://www.asyl.net/rsdb/M4465
Leitsatz:

Keine landesweite Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in Russland. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Russland, Christen, Armenier, Tschetschenen, Moslems, Mischehen, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Rebellen, Glaubwürdigkeit, Gesteigertes Vorbringen, Zurechenbarkeit, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Tschetschenien, Nordossetien, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Registrierung, Zuzugsbeschränkungen, Regionale Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Inguschetien, Schikanen, Hilfsorganisationen
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; EMRK Art. 3; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist begründet.

Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG liegen jedenfalls in dem für die Entscheidung des Senats maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) bezüglich der Russischen Föderation nicht vor; es besteht für die Kläger auch kein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG.

Der Senat nimmt den Klägern bereits ihr Verfolgungsschicksal nicht ab. Er hat ernstliche Zweifel hinsichtlich des Vorbringens der Kläger zu ihren Fluchtgründen. Es ist in sich nicht schlüssig. In ihrer Anhörung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge führten die Kläger noch aus, sie seien aus Tschetschenien u.a. deshalb geflohen, weil sie dort von den Rebellen wegen ihres Sohnes mit dem Tode bedroht und geschlagen worden seien und weil die Rebellen ihr Haus verwüstet hätten; aus ... seien sie geflohen, weil sie große Angst gehabt hätten, von den Rebellen wieder entdeckt zu werden. In der mündlichen Verhandlung des Senats trug der Kläger zu 1) erstmals vor, sie hätten aus Angst davor ... verlassen, in russische "Säuberungsaktionen" hineingezogen zu werden, weil er bei der Verteidigung von Grosny mitgewirkt habe und seine Ehefrau Tschetschenin sei. Für dieses gegenüber dem Bundesamt gesteigerte Vorbringen gibt es keine plausible Erklärung.

Nach dem Gesamteindruck, den der Senat von der Anhörung der Kläger vor dem Bundesamt und vor dem Verwaltungsgericht gewonnen hat, spielte Furcht vor "Säuberungsaktionen" der Russen für die Flucht überhaupt keine Rolle. Danach sind die Kläger möglicherweise zwar auch vor den tschetschenischen Rebellen, aber in erster Linie (als "Hauptgrund", so der Kläger zu 1) bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt) deshalb geflohen, um mit ihrem Sohn, der "nur eher ausgereist" sei (so die Klägerin zu 2) bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt), in Ruhe zusammenleben zu können. Die zuletzt geltend gemachte Furcht vor den Säuberungsaktionen der Russen wirkt aufgesetzt und passt in keiner Weise in das ursprünglich geschilderte Fluchtschicksal.

Dem Vorbringen der Kläger kann auch nicht entnommen werden, dass sie etwa vor den Schrecknissen der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem russischen Militär und den tschetschenischen Rebellen in der Zeit von Ende 1994 bis Mitte 1996 bzw, ab Mitte September 1999 und den damit einhergehenden dramatischen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung Tschetscheniens geflohen seien. Grund ihrer Flucht aus Tschetschenien - allerdings zunächst nach Nord-Ossetien im Jahre (...) - war ihren Angaben zufolge vielmehr die entwürdigende und erniedrigende Behandlung und Bedrohung durch die tschetschenisch-muslimischen Rebellen. Dabei handelte es sich um Maßnahmen, die dem russischen Staat, der die Rebellen bekämpft, nicht zugerechnet werden können, auch nicht unter dem Gesichtspunkt der mittelbaren Verfolgung. Es ist auch nicht dargetan oder ersichtlich, dass die Kläger in Nord-Ossetien individuell in irgend einer Weise einer asylerheblichen Verfolgungsintensität ausgesetzt gewesen waren.

Den Klägern drohte bei ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch nicht deshalb individuelle Verfolgung, weil sie zu einem Personenkreis gehörten, für den ein erhöhtes Risiko besonderer Gefährdung bestand (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht v. 15.02.2000). Weder der Kläger zu 1) noch die Klägerin zu 2) haben sich in der Tschetschenienfrage engagiert. Zwar hatte sich der Kläger zu 1) seinen Angaben zufolge - den Wahrheitsgehalt unterstellt - im ersten Tschetschenien-Krieg für kurze Zeit auf tschetschenischer Seite an der Verteidigung von Grosny beteiligt. Dabei handelte es sich jedoch um eine völlig unbedeutende und darüber hinaus von den tschetschenischen Rebellen erzwungene Betätigung, die dem Kläger zu 1) weder beim Verlassen von (...) noch beim Verlassen von Tschetschenien noch während des (..)-jährigen Aufenthalts in Nord-Ossetien zum Nachteil gereichte und die mit den aktuellen Auseinandersetzungen des zweiten Tschetschenien-Krieges in keinem Zusammenhang stehen.

Nach Auswertung der Erkenntnismaterialien kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger aus der Russischen Föderation im (...) Tschetschenen in Anknüpfung an ihre Volkszugehörigkeit einer landesweiten oder regionalen (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 09.09.1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204) Gruppenverfolgung des Staates oder Dritter, die dem Staat zurechenbar gewesen wäre, ausgesetzt waren.

Obschon tschetschenische Volkszugehörige und andere Personen südländisch/kaukasischen Aussehens in der Russischen Föderation außerhalb ihrer Heimatregion Erschwernissen und Übergriffen seitens staatlicher Stellen ausgesetzt gewesen waren und teilweise die einheimische Bevölkerung gegen tschetschenische Volkszugehörige Ressentiments hegte, ist für den hier interessierenden Zeitpunkt nicht erkennbar, dass die Repressalien und Anfeindungen auf einem staatlichen Verfolgungsprogramm beruhten. Sie haben zudem weder von der Häufigkeit noch der Intensität her generell ein Ausmaß erreicht, auf Grund derer jeder Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe hätte befürchten müssen, in Anknüpfung an seine Volkszugehörigkeit landesweit politisch verfolgt zu werden.

Eine landesweite Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger im hier maßgebenden Zeitpunkt kann auch nicht damit begründet werden, dass das in Art. 27 der Russischen Verfassung garantierte Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl des Wohnortes (vgl. hierzu u.a. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15.09.1998 an OVG Nordrhein-Westfalen) durch das durch "Gesetz über das Recht der Bürger auf Freizügigkeit und freie Wahl des Wohnsitzes innerhalb der Russischen Föderation" vom 25. Juni 1993 eingeführte Registrierungswesen, ergänzt durch zahlreiche Verwaltungsvorschriften, vielerorts eingechränkt worden ist (Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 25.11.1996 an VG Frankfurt/Oder; vgl. auch UNHCR, Stellungnahme von Januar 2002).

Im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger aus der Russischen Föderation war schließlich keine Situation gegeben, die gegenüber der Bevölkerung in Anknüpfung an ihre tschetschenische Volkszugehörigkeit den Schluss auf das Vorliegen einer regionalen Gruppenverfolgung rechtfertigen würde, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der unmittelbar oder mittelbar verfolgende Staat die gesamte durch ein oder mehrere Merkmale oder Umstände verbundene Gruppe im Blick hat, sie aber - als "mehrgesichtiger Staat" - aus politischem Kalkül oder ähnlichen Gründen nicht bzw. derzeit nicht landesweit, sondern nur regional verfolgt (vgl. dazu und zur Abgrenzung gegenüber der örtlich begrenzten Gruppenverfolgung BVerwG, Urt. v. 30.04.1996 - 9 C 171.95 -, BVerwGE 101,134, fortgeführt durch Urt. v. 09.09.1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204). Im (...) herrschten in Tschetschenien zwar wieder militärische Auseinandersetzungen zwischen dem russischen Militär und den tschetschenischen Rebellen mit dramatischen Auswirkungen für die Zivilbevölkerung. Doch weder der erste noch der zweite Tschetschenien-Konflikt erfüllen die Voraussetzungen einer regionalen Gruppenverfolgung, so dass den Klägern auch kein Nachfluchtgrund zur Seite steht.

Ungeachtet dessen hatten die Kläger im (...) die Möglichkeit, in Nord-Ossetien zu bleiben, wo sie unbehelligt gelebt haben, oder in andere Regionen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens auszuweichen, in denen jedenfalls eine Registrierung zur Wohnsitznahme nicht erforderlich war oder in denen die Registrierung wieder abgeschafft oder nicht restriktiv angewandt wurde. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass die Kläger in diesen Gebieten im Zeitpunkt ihrer Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keiner politischen Verfolgung ausgesetzt gewesen wären.

Diese Ausweichmöglichkeiten schieden nicht etwa wegen Gefährdung des wirtschaftlichen Existenzminimums aus.

Selbst wenn für die Kläger das wirtschaftliche Existenzminimum in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht gewährleistet gewesen wäre, würde dies nicht die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG rechtfertigen, denn das fehlende wirtschaftliche Existenzminimum wäre nicht verfolgungsbedingt. § 51 Abs. 1 AuslG schützt nicht vor einem Ausweichen in ein verfolgungssicheres Gebiet, wenn die dortige Notlage keine andere ist als die am Herkunftsort. Dabei ist für den Vergleich im hier in Rede stehenden Zusammenhang die wirtschaftliche Lage im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger aus der Russischen Föderation maßgebend. Danach war die wirtschaftliche Lage in Grosny oder einem anderen Ort in Tschetschenien nicht besser als in den anderen Regionen der Russischen Föderation.

Den Klägern droht auch bei einer Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine politische Verfolgung. Allerdings ist ihnen auf Grund der in Tschetschenien herrschenden Verhältnisse eine Rückkehr in ihre Heimatregion nicht zumutbar. Gleichwohl sind sie nicht darauf angewiesen, in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht zu nehmen, weil sie in der Russischen Föderation auch heute noch zumutbare Fluchtalternativen haben.

Danach hat sich zwar die Situation der Tschetschenen, die in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens leben, gegenüber der Situation, wie sie vor Ausbruch des zweiten Tschetschenien-Krieges bestanden hatte, tendenziell verschlechtert. Die referierten Anfeindungen und Diskriminierungen bleiben in ihrer Intensität, wie schon in den Jahren (...), aber immer noch bei weitem hinter den in Tschetschenien selbst stattfindenden massiven und gezielten Angriffen auf Leib und Leben tschetschenischer Zivilisten zurück, so dass den Klägern jedenfalls in die Regionen eine Rückkehr zugemutet werden kann, die ihnen (...) als Ausweichmöglichkeit offengestanden hatten.

Was die neuerlichen Zuzugserschwernisse anlangt, gibt es verlässliche Auskünfte nur für Moskau und andere Großstädte der Russischen Föderation.

Dem kann nicht mit Erfolg eine antitschetschenische Stimmung in Teilen der Bevölkerung entgegengehalten werden. Sie soll sich insbesondere in den großen Städten und in Südrussland ausgebreitet haben (Auswärtiges Amt, Auskunft v. 22.01.2003 an Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge). Laut Stellungnahme der GfbV vom 02.10.2002 an das Verwaltungsgericht Schleswig sollen im Gebiet Wolgograd Progrome gegen Tschetschenen stattgefunden haben. Weitere Ausschreitungen gegen tschetschenische Bevölkerungsteile sind bisher nicht publik geworden. Lediglich aus Moskau wurden Drohungen nationalistischer Gruppen gegen Tschetschenen verlautbart, ohne dass insoweit Repressionen bekannt geworden sind. Auch sonst sind Schwierigkeiten auf Grund von Misstrauen in der Bevölkerung, z.B. bei der Wohnungssuche, nur aus Moskau definitiv bekannt. Nach der Erkenntnislage kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass unter der Bevölkerung landesweit eine antitschetschenische Stimmung mit asylrelevanten Folgen herrschte. Dies gilt nach Auffassung des Senats insbesondere für die an Tschetschenien angrenzenden Gebiete, denn dort leben fast ausschließlich nichtrussische Volkszugehörige.

Nach Auffassung des Senats können insbesondere für Inguschetien auch nicht andere unzumutbare Nachteile, d.h. existenzielle Gefährdungen, die am Herkunftsort so nicht bestünden, festgestellt werden. Die Lebensbedingungen der Flüchtlinge sind zwar unter allen Aspekten schwierig. Sie erfahren aber vielfältige Unterstützung und Hilfe durch internationale Hilfsorganisationen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 27.11.2002; NZZ v. 29.11.2002). Anders als in Tschetschenien werden diese Hilfsmaßnahmen nunmehr von russischer Seite kaum behindert.

Schließlich ist allein die örtliche Nähe zu Tschetschenien und die damit verbundene abstrakte Gefährdung, in die dortigen Kämpfe verwickelt werden zu können, entgegen der vom UNHCR hieraus gefolgerten Ansicht nicht geeignet, Inguschetien den Rang einer inländischen Fluchtalternative abzusprechen. Immerhin besteht die Fluchtmöglichkeit für die meisten ethnischen Tschetschenen seit mehr als drei Jahren, ohne dass sie durch Kampfhandlungen beeinträchtigt oder darin verwickelt worden wären.

In den Personen der Kläger liegen auch keine Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 4 AuslG i.V.m. § 3 EMRK vor.