OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.04.2003 - 1 LB 213/01 - asyl.net: M4466
https://www.asyl.net/rsdb/M4466
Leitsatz:

Keine landesweite Gruppenverfolgung von Tschetschenen in der Russischen Föderation.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Russland, Armenier, Tschetschenen, Gemischt-ethnische Abstammung, Christen, Übergriffe, Festnahme, Misshandlungen, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Glaubwürdigkeit, Gruppenverfolgung, Übergriffe, Verfolgungsdichte, Diskriminierung, Zuzugsbeschränkungen, Registrierung, Regionale Gruppenverfolgung, Örtlich begrenzte Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Dagestan, Existenzminimum
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG liegen jedenfalls in dem für die Entscheidung des Senats maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) bezüglich der Russischen Föderation nicht vor; es besteht für den Kläger auch kein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG.

Selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, dass sein Vorbringen glaubwürdig sei, wäre er nicht vorverfolgt ausgereist. Dem Vorbringen des Klägers kann nicht entnommen werden, dass er etwa vor den Schrecknissen der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem russischen Militär und den tschetschenischen Rebellen in der Zeit von (...) und den damit einhergehenden dramatischen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung Tschetscheniens geflohen sei. Grund seiner Flucht aus Tschetschenien - allerdings zunächst nach (...) im Jahre (...) - war seinen Angaben zufolge vielmehr die entwürdigende und erniedrigende Behandlung, die er als Christ durch die tschetschenisch-muslimischen Rebellen während seines gut 14-tägigen "Zwangsaufenthaltes" auf deren Stützpunkt erlitten habe, sowie die Erkenntnis, dass die Rebellen sowohl gegen die Russen als auch gegen die Christen kämpfen würden. Was die behaupteten Erniedrigungen und Misshandlungen des Klägers bei den Rebellen anlangt, handelte es sich um Maßnahmen, die dem russischen Staat, der die Rebellen bekämpft, nicht zugerechnet werden können, auch nicht unter dem Gesichtspunkt der mittelbaren Verfolgung. Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Ausreise des Klägers aus der Russischen Föderation und dem ersten Tschetschenien-Krieg sieht der Senat nicht.

Dem Kläger drohte auch nicht bei seiner Ausreise aus der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit individuelle Verfolgung (BVerwG, Urt. v. 14.12.1993 - 9 C 45/92 -, DVBI. 1994, 524). Er gehörte insbesondere nicht zu den Personen, für die ein erhöhtes Risiko besonderer Gefährdung bestand (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht v. 15.02.2000). Zwar war der Kläger seinen Angaben zufolge - auf Grund eines Irrtums - Ende (...) für kurze Zeit bei den Rebellen. Er hat sich jedoch weder in der Tschetschenienfrage auf Seiten der Tschetschenen politisch engagiert noch war er auf tschetschenischer Seite im Kriegseinsatz. Da er - wie er geltend gemacht hat - aus Furcht vor den islamisch-fundamentalistischen Rebellen, nicht vor den Regierungstruppen geflohen sei, hatte er - allerdings in der Regel unter Inkaufnahme eines langwierigen, ggf. auch gerichtlichen Verfahrens - sogar die Möglichkeit, als Binnenflüchtling den Vertriebenenstatus zu erhalten (Auswärtiges Amt, Auskunft v. 02.09.1996 an VG Bremen und vom 18.04.2000 an VG Ansbach; UNHCR, Stellungnahme Januar 2000 Nr. 12 ff; siehe auch Memorial 2002, S. 9) und sich registrieren zu lassen. Als Folge des ersten Tschetschenien-Krieges der Jahre 1994 bis 1996 wurde etwa 162.000 Binnenflüchtlingen in rund 80 Regionen der Russischen Föderation der Vertriebenenstatus gewährt.