OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 28.10.2003 - 1 LB 41/03 - asyl.net: M4492
https://www.asyl.net/rsdb/M4492
Leitsatz:

Derzeit besteht im Irak keine staatliche Macht im asylrechtlichen Sinne; keine extreme Gefährdungslage im Sinne der verfassungskonformen Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG wegen Terroranschlägen oder Kriminalität oder wegen schlechter Versorgungslage.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Irak, Kurden, Politische Entwicklung, Gebietsgewalt, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Menschenrechtswidrige Behandlung, Sicherheitslage, Terroranschläge, Übergriffe, Versorgungslage, Existenzminimum, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage
Normen: AuslG § 53 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Die allein zu Schutzansprüchen nach § 53 AuslG zugelassene Berufung des beteiligten Bundesbeauftragten ist begründet.

Der Entscheidung des Senats ist insoweit - maßgeblich - die derzeitige Sach- und

Rechtslage zugrundezulegen (§ 77 Abs. 1 AsylVfG). Auf frühere, insbesondere z. Z. des gestürzten Saddam-Regimes möglicherweise vorhandene Gefährdungslagen kommt es somit nicht mehr an (ebenso OVG Greifswald, Beschl. v. 15.09.2003, 2 L 290/02).

Schutzansprüche nach § 53 Abs. 1 - 4 AuslG erfordern Gefährdungen, die von einer staatlichen Gewalt im Irak herrühren. Damit kommen sie im Falle des Klägers schon deshalb nicht in Betracht, weil derzeit im Irak eine staatliche Macht fehlt (ebenso OVG Münster, Urt. v. 14.08.2003, 20 A 430/02.A).

Das diktatorische Regime Saddam Husseins hat seine politische und militärische Herrschaft über den Irak infolge der am 20. März 2003 begonnenen Militäraktion der USA, Großbritanniens und anderer Staaten endgültig verloren (AA Lagebericht vom 07.08.2003, S. 2). Bislang besteht im Irak noch keine Regierung oder sonstige staatliche Herrschaftsmacht; der Irak steht unter Besatzungsrecht, wobei die Bündnispartner der Militäraktion zur Verwaltung des Landes eine "Coalition Provisional Authority" (CPA) gegründet haben. Ein aus Irakern gebildeter Übergangsrat bei der CPA hat noch keine exekutiven Funktionen (AA Lagebericht, aaO., S. 3; NZZ 13.08.2003).

Der Kläger kann auch keinen Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG beanspruchen.

Soweit die - aus 18 Nationen entsandten - Streitkräfte der Militärkoalition noch mit einer "unbeständigen Sicherheitslage" im Irak (vgl. UNHCR-Stellungnahme an den Senat vom 29.07.2003) zu kämpfen haben, insbesondere mit der Gefahr terroristischer Anschläge, sind die dadurch bedingten Gefahren allgemeiner Natur.

Die innere Sicherheit im Irak ist v. a. durch Terroranschläge, Sabotageakte und Banditenüberfälle - mit Schwerpunkt im arabisch sunnitischen Kerngebiet nördlich und westlich von Bagdad - belastet. Weiter hat die Gewaltkriminalität in den Städten zugenommen, weil noch keine effektive Polizeigewalt aufgebaut werden konnte und die Soldaten der internationalen Militärkoalition sich (u. a.) aus Selbstsschutzgründen dieser Aufgabe nur zurückhaltend annehmen (vgl. AA-Lagebericht, a.a.O., S. 5). Ein landesweiter militärischer Widerstand gegen die internationale Militärkoalition oder die CPA ist demgegenüber bislang nicht ansatzweise erkennbar geworden. Einzelne aufflackernde Gewalt- und Terroraktionen sind - soweit sie überhaupt "politisch" einzuordnen sind, auf lokale Bereiche oder Stammesverbände beschränkt (FAZ vom 09.08.2003; vgl. auch DOI, a.a.O., S. 5). Gefährdet sind vor allem Sicherheitskräfte. Andererseits gelten Teilregionen im kurdisch bewohnten Norden sowie im mehrheitlich schiitischen Süden als weitgehend befriedet (AA-Lagebericht, a.a.O., S. 6). Unabhängig davon ist festzustellen, dass die aus Gewaltaktionen der genannten Art entstehenden Gefährdungen gleichsam "blind" jeden treffen können. Eine Situation dieser Art ist gemäß § 53 Abs. 6 S..2 AuslG nicht schutzbegründend.

Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen kann auch im Hinblick auf die Versorgungslage im Irak nicht mehr von einer (extremen) existenziellen Gefährdung einzelner Rückkehrer ausgegangen werden.