VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 14.10.2003 - 3 UE 466/02.A - asyl.net: M4502
https://www.asyl.net/rsdb/M4502
Leitsatz:

Keine extreme allgemeine Gefahrenlage in der angolanischen Hauptstadt Luanda.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Angola, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Versorgungslage, Luanda, Krankheit, alleinstehende Personen, Immunsystem, Semi-Immunität, Malaria, Infektionserkrankungen, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage
Normen: AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

[...]

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist lediglich die Frage, ob dem Kläger ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 6 AuslG zur Seite steht. [...]

Eine extreme Gefahrenlage ist weder in den allgemeinen Lebensbedingungen in Luanda noch in der Gefahr zu sehen, in Luanda an einer der gefährlichen Infektionskrankheiten wie z. B. Malaria zu erkranken.

Eine extrem zugespitzte Gefahrenlagen ist in Luanda nicht anzunehmen. Die Lage in Angola hat sich grundsätzlich mit dem Tod des Anführers der Rebellenorganisation UNITA, Jonas Savimbi, im Februar 2002 und der darauf folgenden Einstellung der militärischen Handlungen im März 2002 entscheidend geändert. [...]

Dennoch ist die humanitäre Situation als kritisch zu bezeichnen. Das Auswärtige Amt stellt dazu fest, dass die Regierung zunächst auf die Versorgung der Bevölkerung nicht vorbereitet gewesen sei. 35 % der UNITA-Soldaten und ihrer Angehörigen hätten unter schwerer Unterernährung gelitten. Auch die Mortalitätsrate von sieben bis fünfzehn pro 10.000 Menschen pro Tag habe den oft angewendeten Schwellenwert für humanitäre Interventionen von zwei Todesopfern pro 10.000 Menschen pro Tag bei weitem übertroffen. Die Situation habe sich jedoch ab Mitte 2002 auch durch die Tätigkeit internationaler Hilfsorganisationen verbessert. Dennoch sei die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln in weiten Teilen des Landesinnern Angolas weiterhin sehr kritisch. Bezogen auf den Großraum Luanda sei jedoch eine wenn auch am unteren Rand des Menschenwürdigen liegende Versorgung weitestgehend gegeben. Bedenklich seien allerdings die Lebensbedingungen für behinderte Menschen ohne familiäre Unterstützung und Kinder ohne familiären Rückhalt.

Der UNHCR spricht sich aus humanitären Gründen (mit Bericht vom 28. November 2002 an das OVG Sachsen-Anhalt) gegen eine unfreiwillige Rückkehr von angolanischen Asylbewerbern zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus, soweit es um Regionen gehe, die am stärksten von den bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen gewesen seien. Bei Personen aus Luanda hält der UNHCR eine unfreiwillige Rückkehr nur dann für angemessen, wenn diese Personen von Familienmitgliedern, die bereits dort lebten, in Empfang genommen werden könnten. [...]

Für den Kläger ergibt sich aus diesen Dokumenten, dass er im Hinblick auf die humanitäre Situation in Luanda mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben wird, nicht jedoch, dass er in eine extrem zugespitzte allgemeine Gefahrenlage gerät. Soweit der UNHCR eine unfreiwillige Rückkehr nur dann für angemessen hält, wenn der Betroffene von Familienangehörigen in Empfang genommen wird, stellt dies keine rechtliche Aussage zu § 53 Abs. 6 AuslG dergestalt dar, dass der Betroffene anderenfalls schwersten Verletzungen oder der Gefahr des Todes ausgesetzt wäre. Der 1969 geborene Kläger lebt seit 1993 außerhalb Angolas. Er würde aller Voraussicht nach ohne weitere Familienmitglieder nach Angola abgeschoben und ist dort nicht für das Überleben einer Familie verantwortlich. Er hat in Angola Wehrdienst geleistet und war als Händler tätig, hat daher in Angola bereits Arbeitserfahrungen sammeln können und verfügt nunmehr über zusätzliche Kenntnisse durch seinen Auslandsaufenthalt in der Bundesrepublik. Es ist nicht bekannt, dass er an bestimmten Krankheiten leidet und er ist in einem günstigen Lebensalter, um sich seine im Ausland erworbenen Kenntnisse zu Nutze machen zu können. Ob er über verwandtschaftliche Beziehungen in Angola verfügt, ist nicht bekannt. [...]

Der Senat geht nicht davon aus, dass der Kläger aufgrund fehlender Anpassungsmöglichkeiten seines Immunsystems "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod" entgegengeht. Der Kläger ist gesundheitlich nicht vorbelastet und hat bis zum seinem 24. Lebensjahr in Angola gelebt. [...]

Für den Kläger kann man annehmen, dass er seine mit großer Wahrscheinlichkeit erworbene Semi-Immunität durch seinen Auslandsaufenthalt verloren hat. Dennoch kann eine Extremgefahr für ihn ausgeschlossen werden. Selbst wenn man von einer hohen Erkrankungshäufigkeit und der oben genannten Sterblichkeitsrate ausgeht - bei Kindern liegt sie gemäß dem Gutachter Dr. Junghanss (Gutachten vom 9. Februar 2001) am höchsten, nämlich bei etwa 1 % - stellt dies keine Extremgefahr dar. Die Höhe dieser Sterblichkeitsrate bedeutet nicht, dass jeder Abgeschobene "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod" entgegengeht. Es kommt hinzu, dass es wirksame und kostengünstige Prophylaxemöglichkeiten gibt, wie beispielsweise das imprägnierte Moskitonetz. Diese Art der Prophylaxe senkt das Infektionsrisiko um etwa 50 %, wie der Gutachter Dr. Junghanss angegeben hat.

Auch die Gefahr schwerster Verletzungen erscheint nicht in einer Weise gesteigert, die ein Abschiebungshindernis darstellen könnte. Zwar müssen Rückkehrer mit verlorengegangener Semi-Immunität in Malariagebieten mit einer schweren Malaria rechnen. Auch kann eine schwere Malaria bleibende Schäden zur Folge haben. Das Risiko von Spätschäden liegt nur bei 10 bis 20 %. Dabei handelt es sich im Übrigen nicht stets um schwerwiegende Schäden wie etwa Erblindung und Lähmung. Damit kann auch insoweit von einer extrem erhöhten Gefahr schwerster Verletzungen nicht ausgegangen werden.

Auch das Risiko, an einer der weiteren genannten Krankheiten zu erkranken oder zu sterben, kann nicht als extrem erhöht angesehen werden. Bei einer Mortalitätsrate von 675 Personen auf 100.000 Einwohner pro Jahr (Gutachten Dr. Junghanss vom 5. April 2001) entspricht dies einem Risiko von 0,675 % pro Jahr, an einer der genannten Krankheiten (einschließlich Malaria) zu sterben. Dieses Risiko kann nicht als so hoch eingestuft werden, dass der Betroffene "gleichsam sehenden Auges in den Tod" geschickt würde.

Gleiches gilt entsprechend für die Wahrscheinlichkeit schwerer gesundheitlicher Folgeschäden, die Dr. Junghanss in seinem o. a. Gutachten berechnet. Dies folgt bereits daraus, dass die von Dr. Junghanss genannten schweren Gefahren nicht die von der Rechtsprechung geforderten "schwersten Gefahren" darstellen.

Das von Dr. Junghanss verwendete Messsystem der DALYs (disability adjusted life years) erfasst die durch Krankheit nicht mehr bei voller Gesundheit gelebten Lebensjahre. Für Angola gibt er eine Zahl von 25.537 verlorene DALYs auf 100.000 Einwohner pro Jahr an, die durch die Folgeschäden von Infektionserkrankungen und parasitäre Erkrankungen insgesamt verloren gehen. Für Deutschland entspricht dem die Zahl 300. Aus diesen Angaben kann jedoch nicht geschlossen werden, dass ein abgeschobener Angolaner mit hoher Wahrscheinlichkeit schwersten gesundheitlichen Schäden im Heimatland ausgesetzt sein wird. Nach den Zahlen von Dr. Junghanss kommen auf 100 Einwohner etwa 25-26 nicht mehr bei voller Gesundheit gelebte Lebensjahre. Diese Angaben erfüllen nach Auffassung des Senats jedoch nicht das Kriterium "schwerster Verletzungen ", denn von Dr. Junghanss werden sämtliche körperlichen Einschränkungen als Folgeschäden einer Infektion erfasst. Darüber hinaus bedeutet die Berechnung Dr. Junghanss, dass statistisch gesehen ein Mensch in Angola 0,25 - 0,26 Lebensjahre aufgrund von Infektionsfolgeschäden nicht mehr bei voller Gesundheit erlebt. Diese Einschränkung ist nicht als so gravierend anzusehen, dass sie das Kriterium der extrem zugespitzten Gefahrenlage erfüllt. Dem Kläger ist zu Unrecht Abschiebungsschutz gewährt worden, sodass der Berufung stattzugeben ist. [...]