VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 02.10.2003 - 1 K 2124/02.A - asyl.net: M4519
https://www.asyl.net/rsdb/M4519
Leitsatz:

Kosovo kein Teil Serbiens mehr; zum Abschiebungsschutz für Ashkali aus dem Kosovo.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Ashkali, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Aufhebung, Memorandum of Understanding, Interne Fluchtalternative, Gebietsgewalt, Extreme Gefahrenlage, Diskriminierung, Übergriffe, Versorgungslage, Existenzminimum
Normen: AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisss nach § 53 Abs. 6 AuslG.

Die vom Kläger geltend gemachten Gefahren, die ihm aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Ashkali drohen, sind allgemeine Gefahren, die grundsätzlich für die gesamte Bevölkerungsgruppe im Kosovo bestehen. Sie rechtfertigen im Falle des Klägers auch die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG in verfassungskonformer Auslegung. Diese ist - im Gegensatz zur Rechtslage bis zum 31. März 2003 - nicht schon deswegen ausgeschlossen, weil die abschiebungsrelevante Lage für abgelehnte Asylbewerber

dieser Volksgruppe durch Erlasse geprägt ist, deren rechtlich verbindliche Vorgaben für die Ausländerbehörden in ihren Auswirkungen einer generellen Regelung gemäß § 54 AuslG gleichkommen.

Nunmehr hat sich die Situation für die Angehörigen der Volksgruppe der Ashkali wie den Kläger grundlegend geändert. Der Erlass des Innenministeriums für das Land Nordrhein - Westfalen vom 7. April 2003 - 14/44.386 - I 14 (Kosovo) sieht nunmehr grundsätzlich auch die zwangsweise Rückführung von bis zu 1000 Angehörigen der ethnischen Minderheiten der Türken, Bosniaken, Gorani, Torbesh und der Ashkali und Ägypter vor. Entsprechend dem zwischen dem Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für das Kosovo und dem Bundesinnenminister vereinbarten "Memorandum of Understanding" vom 31. März 2003 gilt für rückzuführende Ashkali und Ägypter - innerhalb dieser zahlenmäßigen Grenze - ein individuelles Prüfverfahren, das von UNMIK durchgeführt wird.

Die dem Kläger bei einer Rückkehr in den Kosovo drohenden Gefahren erfüllen auch die Voraussetzungen der vom Bundesverwaltungsgericht für eine verfassungskonforme Auslegung geforderten extremen Gefahrenlage.

Insoweit ist Prüfungsmaßstab lediglich die Lage im Kosovo als Herkunftsgebiet des Klägers. Der Kläger kann nicht auf andere Gebiete in Serbien als inländische Fluchtalternative verwiesen werden. Zwar umfasst die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes noch das gesamte Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt Staatenunion Serbien und Montenegro). Völkerrechtlich ist die Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien auch noch nicht aufgehoben worden. Der Bescheid bezeichnet den Klammerzusatz "Kosovo" ausdrücklich als lediglich unverbindlichen Hinweis für die Ausländerbehörde. Faktisch ist der Kosovo nach Auffassung der Kammer aber nicht mehr als unselbständiger Teil der Republik Serbien anzusehen. Es handelt sich vielmehr um ein Gebiet, das schon hinsichtlich der ethnischen Besiedelung deutliche Unterschiede zum (übrigen) serbischen Staatsgebiet aufweist.

Unabhängig von der noch ausstehenden endgültigen Klärung des völkerrechtlichen

Status seit dem Abzug serbischer Sicherheitskräfte im Herbst 1999 unterliegt der Kosovo derzeit einer von Serbien getrennten Verwaltung durch die Vereinten Nationen (UNMIK/KFOR). Diese hat durch ihre Dauer mittlerweile eine gewisse Verfestigung erhalten. Durch die Aufspaltung der früheren Bundesrepublik Jugoslawien in zwei in einer Föderation verbundene Staaten - Serbien und Montenegro - hat sich die schon früher zu verzeichnende Ablösung des Kosovo von dem Gesamtstaat Bundesrepublik Jugoslawien zudem verstärkt. Eine (vollständige) Wiedereingliederung des Kosovo in die serbische Republik und deren Staatsgewalt ist auf unabsehbare Zeit politisch nicht vorstellbar (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 4. Juni 2002 und vom 27. November 2002; "Kosovo auf dem Weg zur Nation", NZZ vom 14. August 2002; "Die Anarchie ist tot, es lebe die Verwaltung, Auch in Nord-Mitrovica übernimmt die UNMIK die Kontrolle", FAZ vom 26. November 2002; "Kosovo-Serben ernüchtern die UNMIK", Frankfurter Rundschau vom 29. Oktober 2002; "Kontinuität der Diskriminierung im Kosovo, die serbische Provinz seit dem Zweiten Weltkrieg", NZZ vom 14. November 2001).

Mit Blick auf eine inländische Fluchtalternative ist der Kosovo in der gegenwärtigen Situation deshalb nicht (mehr) als Region eines Gesamtstaates Serbien und Montenegro zu werten. So hat auch das Bundesamt im angefochtenen Bescheid vom 19. September 2002 die Verhältnisse im Kosovo geprüft.

Die Lage der Roma und Ashkali im Kosovo ist trotz gewisser gradueller Verbesserungen der Gesamtsituation auch gegenwärtig noch dadurch gekennzeichnet, dass sie einer besonderen Gefahr der Diskriminierung ausgesetzt sind. Allgemeine interethnische Spannungen und Intoleranz verbinden sich mit einer besonderen Diskriminierung gegenüber Roma, Ashkali und Ägyptern durch fast alle anderen ethnischen Gruppen im Kosovo. Die Probleme umfassen neben akuter Diskriminierung und Ausgrenzung Granatenangriffe, Steinwürfe auf Behausungen und körperliche Übergriffe. An vielen Orten sind Roma und Ashkali regelmäßig Gewalt und Einschüchterung ausgesetzt, die teilweise bis hin zum Angriff auf ihr Leben reicht. Zahl und Intensität der begangenen Verbrechen sind im Verhältnis zur Größe Kosovos, seiner Bevölkerungszahl und der Zahl der internationalen und lokalen Sicherheitskräfte immer noch hoch. Die Motivation hierfür beruht teilweise auf dem Vorwurf der Kollaboration mit den Serben während deren Vorgehen gegen die Albaner in der Zeit bis zum Juni 1999. Durch die mit der Diskriminierung verbundene Bedrohung der physischen Sicherheit ist die Bewegungsfreiheit der Roma und Ashkali eingeschränkt, was sie wiederum in der Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Rechte beeinträchtigt und ihre ohnehin schon ärmliche Situation verschlimmert.

Die Lage im Einzelnen variiert jedoch je nach örtlicher Situation erheblich (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe: Kosovo - Situation der Minderheiten/Update vom 2. April 2003; Gutachten des UNHCR zur fortdauernden Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo vom Januar 2003; Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 27. November 2002 und vom 4. Juni 2002; Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Kassel vom 8. Mai 2002).

Nach Überzeugung der Kammer ist vor diesem Hintergrund eine differenzierende Entscheidung anhand der im "Memorandum of Understanding" zwischen dem Bundesinnenminister und dem Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für das Kosovo vom 31. März 2003 aufgeführten sicheren Orte zu treffen. Diese Liste beruht auf den vor Ort von UNMIK gewonnen Informationen. Wenn der jeweilige Kläger aus einem dort aufgeführten sicheren Ort stammt und somit eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass er an einem solchen Ort an persönliche Kontakte aus der Zeit vor seiner Ausreise anknüpfen kann, die ihn vor einer Eskalation der Sicherheitslage schützen und den wirtschaftlichen Neuanfang erleichtern können, sind die strengen Voraussetzungen für eine extreme allgemeine Gefahrenlage in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG nicht erfüllt.

Anders ist es dagegen, wenn der jeweilige Kläger nicht aus benanntem Ort stammt.