VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 12.01.2004 - 15 VG 5827/2003 - asyl.net: M4598
https://www.asyl.net/rsdb/M4598
Leitsatz:

Kein Anspruch muslimischer Eltern auf Befreiung ihrer Tochter vom Sexualkundeunterricht.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Moslems, Kinder, Schule, Unterrichtsbefreiung, Sexualkundeunterricht, Schulpflicht, Glaubensfreiheit, Religionsfreiheit, Elternrecht, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwGO § 123; HmbSG § 6; HmbSG § 28 Abs. 3; GG Art. 4; GG Art. 6 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

Den Antragstellerinnen steht kein Anspruch auf Befreiung der Antragstellerinnen zu 2) und 3) vom Biologieunterricht - soweit dort das Fach Sexualkunde behandelt wird - zu. Die von den Antragstellerinnen begehrte, auf eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Unterrichtsbefreiung gerichtete einstweilige Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO ist deshalb nicht auszusprechen.

Die Antragstellerinnen stützen ihr Begehren im Wesentlichen auf religiöse Gründe. DieAntragstellerin zu 1) bringt vor, sie sei Muslima und erziehe ihre Töchter, die Antragstellerinnen zu 2) - geboren (...) -) und 3) - geboren (..) -, welche die 9. Klasse der Schule ... besuchen, strikt im muslimischen Glauben. Ihr Glaube verbiete es, die "Aura" eines anderen Menschen anzuschauen, wozu bei Mädchen, die bereits ihre Periode hätten, alles außer dem Gesicht und den Händen zu rechnen sei. Es sei für ihre Töchter deshalb nicht möglich, die im Sexualkundeunterricht verwendeten Bilder und Anschauungsmaterialien anzusehen. Dies widerspreche dem Keuschheitsgesetz des Korans und werde von den Kindern als "Sünde" empfunden. Die Teilnahme am Sexualkundeunterricht werde sie deshalb in schwere Gewissenskonflikte stürzen. Die Sexualität finde im Islam nur in der Ehe statt, weshalb vorher auch gar kein Bedarf sei, hierüber aufzuklären.

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich für die Antragstellerinnen kein Anspruch auf die beantragte Unterrichtsbefreiung.

Die Sexualerziehung in der Schule hat in Hamburg ihre gesetzliche Grundlage (BVerfG, Beschl. v. 21.12.1977, BVerfGE Bd. 47 S. 46) in § 6 Hamburgisches Schulgesetz (HmbSG). Im Unterschied zu § 7 Abs. 3 HmbSG, welcher den Religionsunterricht betrifft, stellt § 6 HmbSG die Teilnahme am Unterricht nicht in die Entscheidung der Erziehungsberechtigten - bzw. nach Vollendung des 14.. Lebensjahres der Schülerinnen und Schüler. Die Teilnahme am Sexualkundeunterricht ist somit - als von der Schulpflicht gemäß § 28 Abs. 2 HmbSG umfasst - grundsätzlich obligatorisch. Ein Antrag auf Unterrichtsbefreiung kann nur auf die allgemeine Regelung des § 28 Abs. 3 HmbSG gestützt werden. Nach § 28 Abs. 3 Satz 1 2. Alternative HmbSG kann die Schule auf Antrag aus wichtigem Grund von der Teilnahme an einzelnen Unterrichtsveranstaltungen befreien.

Zwar haben sowohl die von den Antragstellerinnen zu 2) und 3) besuchte Schule, als auch die im Rahmen der Schulaufsicht gemäß § 85 Abs. 1 HmbSG zuständige Antragsgegnerin die Anwendbarkeit der zitierten Befreiungsregelung offenbar übersehen und somit das ihnen eingeräumte Befreiungsermessen möglicherweise verkannt. Doch verhilft das dem Begehren der Antragstellerinnen nicht zum Erfolg. Im Ergebnis zu Recht ist die von der Antragstellerin zu 1) beantragte (teilweise) Befreiung von den Unterrichtsveranstaltungen zum Thema Sexualkunde versagt worden. Das in Anwendung von § 28 Abs. 3 Satz 1 HmbSG insoweit eingeräumte Ermessen ist nicht eröffnet, weil für das Begehren der Antragstellerinnen ein wichtiger Grund nicht vorliegt.

Allerdings können sich die Antragstellerinnen auf verfassungsrechtlich geschützte Positionen berufen. Doch verleiht allein dieser Umstand dem Begehren noch nicht das erforderliche Gewicht. Wie noch auszuführen sein wird, unterfallen grundsätzlich alle von Eltern gestellten Befreiungsanträge, wie unzulänglich sie im Einzelfall auch begründet sein mögen, schon im Hinblick auf das "Elternrecht", Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, dem Schutzbereich eines Grundrechts. Das gleiche gilt generell auch für Anträge, die von (grundrechtsmündigen) Schülern gestellt werden, weil sie in jedem Fall von dem Schutzbereich des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 GG, erfasst werden.

Für die Beantwortung der Frage, ob ein wichtiger Grund im Sinne des § 28 Abs. 3 Satz 1 HmbSG vorliegt, kommt es deshalb bereits auf der "Tatbestandsseite" auf die in vollem Umfang gerichtlicher Kontrolle unterliegende (verfassungs)rechtliche Gewichtung der im jeweiligen Einzelfall vorgebrachten Argumente an.

Das Vorbringen der Antragstellerinnen füllt den unbestimmten Rechtsbegriff des wichtigen Grundes nicht aus.

Das Begehren der Antragstellerin zu 1) unterfällt dem Schutzbereich der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Doch werden die der Antragstellerin insoweit vermittelten Rechtspositionen nach Auffassung des Gerichts durch Gemeinschaftswerte, denen ebenfalls Verfassungsrang zukommt, in ihrem Geltungsanspruch relativiert und im Ergebnis überwogen.