VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 23.10.2003 - A 4 K 10796/03 - asyl.net: M4711
https://www.asyl.net/rsdb/M4711
Leitsatz:

§ 53 Abs. 6 S. 1 AuslG für Kurden, der an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, wegen Gefahr der Retraumatisierung durch Kontakt mit türkischen Sicherheitskräften.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Folgeantrag, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Psychische Erkrankung, Traumatisierte Flüchtlinge, Posttraumatische Belastungsstörung, Folteropfer, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Retraumatisierung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; VwVfG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger hat sowohl einen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Verfahrens bezüglich § 53 Abs. 6 AuslG als auch einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG.

Wiederaufnahmegrund nach § 51 Abs. 1 VwVfG sind hier die vom Kläger vorgelegten ärztlichen und psychologischen Stellungnahmen und Gutachten des behandelnden Arztes (..), die neue Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG darstellen.

Vor allem in dem nervenärztlichen Gutachten der ... vom 25.09.2002, die der verantwortliche Arzt Dr. ... als Sachverständiger in der mündlichen Gerichtsverhandlung erläutert und ergänzt hat, wird überzeugend dargelegt, dass bei dem Kläger eine erhebliche psychische Erkrankung in der Form einer posttraumatischen Belastungsstörung - PTBS - und (inzwischen auch) einer Depression besteht. Die entsprechenden Merkmale nach dem ICD 10 bzw. auch dem DSM IV sind danach allesamt erfüllt. Insbesondere ist im Fall des Klägers davon auszugehen, dass er in seiner Heimat traumatische Ereignisse erlebt hatte. Schon im Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 08.11.2001 - A 5 K 10881/99 -, mit dem die Asylklage des Klägers letztlich abgewiesen wurde, ist das Gericht davon ausgegangen, dass der Kläger wegen (angeblicher) Unterstützung der PKK zu drei Jahren schwerer Haft verurteilt war und diese Haftstrafe auch tatsächlich abgesessen hatte. Ferner hat der Kläger schon in seinem ersten Asylverfahren glaubhaft geschildert, dass er vor der Verurteilung 14 Tage lang inhaftiert gewesen und 7 Tage davon gefoltert worden sei, was bei einem solchen Verdacht der Unterstützung für die PKK, der später zu einer Verurteilung führt, nach den Erkenntnisquellen über die Türkei auch äußerst wahrscheinlich ist. Glaubhaft ist insbesondere auch, dass der Kläger die Folterungen als Begleitmaßnahmen der Inhaftierung vor der späteren Verurteilung, also nicht als Erlebnisse während der Vollstreckungshaft, geschildert hat.

Vor diesem Hintergrund ist auch glaubhaft, dass der Kläger ein Trauma erlitten und insbesondere deshalb, aber auch als Folge seines ungesicherten Aufenthaltstatus in der Bundesrepublik Deutschland, der Umstände seiner Flucht und der Angst vor einer Rückkehr in das Gebiet, in dem ihm so viel Leid geschehen ist, ernsthaft psychisch erkrankt ist und an einer PTBS und, wie der Sachverständige in der mündlichen Gerichtsverhandlung überzeugend dargelegt hat, auch an einer Depression als weiterer Ausprägung der PTBS leidet.

Das Gericht ist außerdem der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands bis hin zu einer völligen psychischen und letztlich auch physischen Verelendung zu erwarten hätte. Zwar ist objektiv eher nicht zu befürchten, dass ihm in der Türkei landesweit staatliche Verfolgungsmaßnahmen drohen (vgl. hierzu VG Freiburg, Urt. v. 08.11.2001, a.a.O.). Nach dem ärztlichen Gutachten des Sachverständigen ... und dessen Ergänzungen und Erläuterungen in der mündlichen Gerichtsverhandlung ist eine zwangsweise Rückkehr des Klägers in die Türkei aber auf absehbare Zeit mit der Gefahr eines verstärkten Wiedererlebens der Schlüsselreize verbunden, die seine Krankheit ausmachen und die ihn in ein neues Stadium seiner Erkrankung bis hin zur völligen Ausweglosigkeit, das heißt u. a. bis zu einer suizidalen Handlung, hineinmanövrieren würden. Die Traumata würden beim Kläger u. a. bei jeder Konfrontation mit türkischen Sicherheitskräften erinnert werden. In der Uniform des Militärs, der Polizei oder der Jandarma träten ihm die früheren Peiniger in der Türkei unvermeidbar erneut gegenüber und würden die alten Angstvorstellungen wiederbeleben. Das Gericht ist nach dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen, das insoweit in Einklang steht mit den anderen oben genannten ärztlichen und psychologischen Stellungnahmen, davon überzeugt, dass der Kläger angesichts dieser Situation ohne den Schonraum und die medizinische und psychologische Betreuung, die er gegenwärtig in Deutschland erfährt, letztlich in der Türkei in eine hilflose Lage geraten würde, in der er seelisch und am Ende auch körperlich zugrunde gehen würde.