OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.05.2003 - 20 A 3332/97.A - asyl.net: M4714
https://www.asyl.net/rsdb/M4714
Leitsatz:

§ 53 Abs. 6 AuslG für afghanischen Staatsangehörigen wegen Krebserkrankung; Gefährdung wegen unzureichend ausgestattetem Gesundheitssystem in Kabul und durch den Mangel an sauberem Wasser, Lebensmitteln, Wohnraum und sozialer Infrastruktur oder infolge von Überfällen.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Nadjibullah-Anhänger, Kommunisten, Familienangehörige, Ermordung, Sippenhaft, Vorverfolgung, Gebietsgewalt, Situation bei Rückkehr, Quasi-staatliche Verfolgung,Abschiebungshindernis, Krankheit, Krebs, Alter, Behinderte, Soziale Bindungen, Versorgungslage, Medizinische Versorgung, Extreme Gefahrenlage
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Die Klage ist unbegründet, soweit die Kläger Anerkennung als Asylberechtigte, Art. 16a GG, und die Feststellung begehren, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG erfüllt sind; denn die Kläger sind nicht als politisch Verfolgte anzusehen. Das deshalb zur Entscheidung stehende nachrangige Begehren, die Beklagte zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG zu verpflichten, hat Erfolg, was die Feststellung eines Abschiebungshindemisses nach § 53 Abs. 6 AuslG angeht; denn für die Kläger ist in Afghanistan eine extreme Gefahrenlage gegeben, der aus verfassungsrechtlichen Gründen mit der Gewährung von Abschiebungsschutz in entsprechender Anwendung dieser Norm zu begegnen ist.

Dem Vorbringen der Kläger ist eine Vorverfolgung schon deshalb nicht zu entnehmen, weil den geschilderten, sie betreffenden Geschehnissen vor der Ausreise der Charakter der politischen Verfolgung fehlt; hinter diesen Geschehnissen stand nämlich weder ein Staat noch eine Organisation mit staatsähnlicher Herrschaftsgewalt (vgl. zu diesem Erfordernis: BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, a.a.O., S.333 sowie Kammerbeschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260 und 1353/98 -, NVwZ 2000, 1165; BVerwG, Urteil vom 18. Januar 1994 - 9 C 48.92-, BVerwGE 95, 42, 45).

Die Situation in Afghanistan und speziell in Kabul war jedenfalls, wie gerade auch die Schilderungen der Kläger zeigen, bis über den Zeitpunkt ihrer Ausreise hinaus von Kämpfen verschiedener Gruppierungen geprägt, von denen es keiner gelang, eine auch nur gewisse Stabilität ihrer Macht und ihres Einflusses in Kabul zu erlangen.

Die aufgrund dieser Verhältnisse etwa im Urteil des Senats vom 16. November 1995 - 20 A 3402/91.A - (S. 31 ff.) für den Zeitraum, in dem die Kläger ausgereist sind, gezogene Schlussfolgerung, dass nicht nur - was in der Sache nicht zu bezweifeln ist - keine zentrale staatliche Herrschaftsmacht existiert habe, sondern sich auch keine staatsähnliche Herrschaftsmacht auf einem abgegrenzten Gebiet, als das hier Kabul in den Blick zu nehmen ist, effektiv durchgesetzt und etabliert habe, hat auch unter Berücksichtigung des Kammerbeschlusses des Bundesverfassungsgerichtes vom 10. August 2000 (a.a.O.) Geltung und wird hier in Bezug genommen.

Die wegen demnach fehlender Vorverfolgung erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle der Rückkehr ist nicht gegeben.

Dabei mag dahinstehen, ob das schon deshalb der Fall ist, weil auch gegenwärtig und selbst für den Raum Kabul, aus dem die Kläger stammen und der für eine Rückkehr in Betracht zu ziehen ist, das Bestehen einer staatlichen oder quasi-staatlichen Macht zu verneinen wäre. Es ist jedenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger in Anknüpfung an asylerhebliche Umstände gezielten Übergriffen von asylerheblichem Gewicht ausgesetzt sein könnten.

Spezielle, gerade und ausschließlich auf ihre Person bezogene Anknüpfungspunkte für besorgte Übergriffe haben die Kläger nicht aufgezeigt: Der Kläger hat aufgrund seiner Tätigkeit unter dem seinerzeitigen kommunistischen Regime nichts zu befürchten. Da der Kläger nicht Mitglied in der kommunistischen Partei Afghanistans (DVPA) gewesen ist und selbst deren Mitglieder und Funktionäre von Verfolgungsmaßnahmen nur unter besonderen Voraussetzungen bedroht sind (Schweizer Flüchtlingshilfe vom 3.3.2003 S. 13; AA Lagebericht Afghanistan vom 2.12.2002 S. 11; Glatzer vom 26.8.2002; Danesch vom 18.2.2003, vom 9.10.2002 und vom 5.8.2002), von denen hier keine vorliegt, kommen als Gefährdungsmomente allenfalls seine tatsächliche Funktion bzw. Tätigkeit unter dem kommunistischen Regime, eine bekannte Identifikation mit oder besondere Beziehungen zu ihm sowie die - wegen der Möglichkeit von Sippenhaft nicht von vornherein zu vernachlässigende - Tätigkeit seiner Kinder für das Regime in Betracht.

Der Kläger selbst hat sich weder politisch betätigt noch hatte er eine politisch geprägte Position in der Afghanistan-Bank inne; daher drängt sich der Schluss - auf, dass er allein wegen seiner beruflichen Kompetenz geschätzt wurde und in das mittlere Management der Bank aufrücken konnte.

Auch wegen der Kinder der Kläger sind Verfolgungsmaßnahmen unwahrscheinlich. Der als Mitglied der Organisationsabteilung beim Zentralkomitee tätig gewesene Sohn ist aus ungeklärter Ursache getötet worden, ohne dass den Klägern in den nachfolgenden Jahren etwas geschehen ist; die übrigen Kinder haben sich nicht erkennbar politisch betätigt und leben im Ausland. Schließlich ist nicht anzunehmen, dass der Umstand, dass sich die Tochter der Kläger dem Heiratswunsch eines Mujahedin-Kommandanten durch Ausreise entzogen hat.

Hingegen haben die Kläger Anspruch auf Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG.

Die Kläger leiden nachgewiesenermaßen an verschiedenen schwerwiegenden Krankheiten, die regelmäßige Medikation, ärztliche Beobachtung und Behandlung erfordern; der Kläger wird wegen seines Krebsleidens bestrahlt. Hinzu kommt die in der mündlichen Verhandlung deutlich hervorgetretene stark einschränkte Mobilität aufgrund Alter und Behinderung beider Kläger. Mit der unabdingbaren Hilfe durch (ausreisepflichtige) Verwandte oder Freunde, die in der Bundesrepublik durch einen sich hier auf der Grundlage einer unbefristeten Aufenthalterlaubnis aufhaltenden Sohn geleistet wird, können die Kläger in Afghanistan nicht rechnen. Sämtliche sozialen Bindungen dort sind aufgelöst; die Kinder der Kläger sind, wie gesagt, tot oder leben legal im Ausland. Von daher werden die Kläger in Afghanistan auf sich gestellt sein. Es ist unter Gesundheitsaspekten nicht vorstellbar, dass für die Kläger Medikamente und Behandlungsmöglichkeiten, auch soweit in dem unzureichend ausgestatteten Gesundheitssystems Kabuls (ASA Afghanistan vom 2.12.2002 S. 15) noch verfügbar, überhaupt erreichbar sein könnten. Aufgrund ihres schlechten Zustandes ist ebenso wenig vorstellbar, dass die Kläger auf die Angebote von Hilfsorganisationen - zumal in der gebotenen Regelmäßigkeit und auch in jederzeit denkbaren Notfällen - zurückgreifen, diese auch nur erreichen könnten. Daher ist eine extreme Gefahr der Leib wie Leben bedrohenden Verschlimmerung ihrer Krankheiten anzunehmen, weil die notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die Krankheiten der Kläger in Afghanistan wegen des geringeren Versorgungsstandards dort generell nicht verfügbar sind oder weil die Kläger die unabdingbare medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen können (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, DVBI. 2003, 463).

Außerdem besteht eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kläger allein schon durch den Mangel an sauberem Wasser, Lebensmitteln, Wohnraum und sozialer Infrastruktur, aber auch infolge von Überfällen, die in der angespannten Sicherheitslage in Kabul an der Tagesordnung sind (z.B. AA Afghanistan vom 2.12.2002; Glatzer vom 22.8.2002), zu Schaden oder gar zu Tode kommen.