OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.11.2003 - 9 A 4107/99.A - asyl.net: M4792
https://www.asyl.net/rsdb/M4792
Leitsatz:

Mangels Staatsgewalt keine staatliche Verfolgung; jedenfalls im Nordirak keine allgemeine extreme Gefährdungslage im Sinne der verfassungskonformen Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Nordirak, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Islamisten, Ansar Al-Islam, Al Kaida, Glaubwürdigkeit, Blutrache, Politische Entwicklung, Gebietsgewalt, Machtwechsel, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Sicherheitslage, Versorgungslage, Terroranschläge, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

 

Die Klägerin zu 1. ist zur Überzeugung des Senats unverfolgt aus der Heimat ausgereist. Dass vor der Ausreise von Seiten des früheren Regimes Saddam Husseins Verfolgungsübergriffe gegen sie unternommen worden wären bzw. unmittelbar bevorgestanden haben könnten, hat schon die Klägerin zu 1. selbst nicht berichtet.

Ebenso hat die Klägerin zu 1. nichts dafür mitgeteilt, dass sie Repressalien von Seiten der Angehörigen der getöteten Geheimdienstmitarbeiter ausgesetzt gewesen wäre, die zuvor ihren Mann bedroht haben sollen. Angesichts dessen kann dahinstehen, ob es sich hierbei überhaupt um eine politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG gehandelt hätte.

Letzteres gilt ebenso für den Vortrag der Klägerin zu 1., sie sei vor der Ausreise von Islamisten der Gruppe Ansar Al-Islam mit dem Tode bedroht worden und ihre älteste Tochter sei von den Islamisten bei einem Anschlag umgebracht worden. Auch insofern kann offen bleiben, ob derartige Maßnahmen die Voraussetzungen einer politischen Verfolgung erfüllt hätten. Denn das besagte Vorbringen stellt sich zur Überzeugung des Senats bereits in tatsächlicher Hinsicht als unglaubhaft dar.

Der danach unverfolgt ausgereisten Klägerin zu 1. droht im Fall der Rückkehr in den Irak nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

Derzeit und für die nächste Zukunft ist eine politische Verfolgung der Klägerin zu 1. im Irak nicht nur nicht beachtlich wahrscheinlich, sondern darüber hinausgehend mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen. Dies folgt schon ganz grundsätzlich daraus, dass das einer jeden politischen Verfolgung notwendigerweise zugrunde liegende Substrat, nämlich eine Staatsgewalt, im Irak nicht gegeben ist.

Das bisherige Regime Saddam Husseins hat seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren (Auswärtiges Amt (AA) vom 30. April 2003, Ad- hoc-Information zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak).

Eine andere Regierung oder sonstige irakische Herrschaftsmacht hat das bisherige Regime nicht ersetzt und ist derzeit und für die nächste Zukunft nicht abzusehen. Denn einigermaßen konkret zeichnet sich gegenwärtig noch nichts ab. Die Versuche der amerikanischen Zivilverwaltung, nach dem Ende der Kriegsphase neue innerstaatliche Hierarchien einzurichten, führten alsbald zu Machtkämpfen zwischen rivalisierenden irakischen Gruppierungen (vgl. NZZ vom 25. April 2003), so dass die erwogene kurzfristige Bildung einer irakischen Übergangsregierung bisher nicht stattgefunden hat, sondern vielmehr mittlerweile auf Juni 2004 verschoben worden ist.

Aber auch dann, wenn man über den Zeitrahmen der absehbaren Zukunft hinaus die weitere Entwicklung im Irak - nach Herausbildung einer irakischen Staatsgewalt - in den Blick nimmt, kommt eine Anerkennung der Klägerin zu 1. als Asylberechtigte nicht in Betracht.

Das Vorbringen der Klägerin zu 1. zu ihren Ausreisegründen gibt nach der derzeit möglichen Prognose - auch bei Einstellen noch bestehender Ungewissheiten nichts - dafür her, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmittelbare oder mittelbare staatliche Verfolgung durch einen neu gebildeten irakischen Staat befürchten müsste.

Dies gilt vor allem, weil ein sich künftig herausbildendes neues irakisches Regime keine Ähnlichkeit mit dem bisherigen Regime haben wird und aus jener Zeit stammende Ursachen für Übergriffe gegen Einzelne allenfalls im Sinne von Racheakten gegen Unterstützer des damaligen Regimes denkbar sind (vgl. dazu mündliches Gutachten Uwe Brocks, a.a.O.)

Um eine Person im letztgenannten Sinne handelt es sich bei der Klägerin zu 1. gerade nicht. Über die bloße Mitgliedschaft in der Baath-Partei hinaus hat sie keine Umstände vorgetragen, die sie als aktive Unterstützerin des früheren Regimes erscheinen lassen könnten. Vielmehr hat sie der Baath-Partei mit dem Aufenthalt in Sulaimaniya ab 1992 den Rücken gekehrt und will sich deshalb in den Augen des früheren Regimes sogar verdächtig gemacht haben. Zudem hat sie dort mit einem Peshmerga, nämlich ihrem Mann, mithin also einem ausgewiesenen Gegner des früheren Regimes zusammen gelebt, der etwa an Aktionen gegen Mitarbeiter des früheren Geheimdienstes beteiligt gewesen sein will.

Ebenso wenig liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin zu 1. in Anknüpfung an die geltend gemachten Übergriffe von Islamisten eine unmittelbare oder mittelbare Verfolgung durch eine neue irakische Staatsgewalt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten müsste. Dies folgt zunächst schon daraus, dass sich ihr diesbezügliches Vorbringen zu entsprechenden Übergriffen vor der Ausreise nach den obigen Feststellungen als unglaubhaft erweist. Unabhängig davon ist auch ohnehin nicht zu erwarten, dass es (wieder) zu einer Ballung der Macht bei einer der Volks- bzw Religionsgruppen - etwa radikaler Sunniten oder Schiiten mit entsprechenden fundamentalistischen Tendenzen - kommen wird, wie der Sachverständige Uwe Brocks in dem bereits erwähnten Gutachten unter Verweis auf die kritische Betrachtung derartiger Bestrebungen und Steuerung der Entwicklung durch die US-Kräfte nachvollziehbar und einleuchtend ausgeführt hat (vgl. Mündliches Gutachten Uwe Brocks, a.a.O.)

Angesichts dessen spricht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass islamistische Gruppen wie etwa die Ansar Al-Islam in einem künftigen irakischen Staat eine solche Machtposition erlangen könnten, dass eventuell von ihnen beabsichtigte Repressalien gegen missliebige Personen entweder als unmittelbare staatliche Verfolgung oder aber wegen der Duldung durch staatliche Stellen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale des jeweils Betroffenen zumindest als mittelbare staatliche Verfolgung anzusehen sein könnten.

Der Klägerin zu 1. drohen bei ihrer Rückkehr auch keine landesweiten Gefahren, die ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründen.

Es liegen keine Anhaltspunkte vor für dort mit der erwähnten Wahrscheinlichkeit zu befürchtende, individuell auf die Klägerin zu 1. zielende Maßnahmen islamistischer Gruppen, die mit Leib- und/oder Lebensgefahren verbunden wären. Solche Anhaltspunkte ergeben sich nicht aus dem Vorbringen der Klägerin zu 1. zu früheren Übergriffen von Angehörigen der Gruppe Ansar Al-Islam, denn dieses Vorbringen stellt sich nach dem oben Gesagten als unglaubhaft dar. Eine beachtlich wahrscheinliche Gefahr, Opfer eines gegen sie gerichteten Anschlags islamistischer Kreise zu werden, folgt auch nicht aus dem Vortrag der Klägerin zu 1. zu einzelnen Mordaktionen der Islamisten. Die von der Klägerin zu 1. benannten Vorfälle betrafen im Wesentlichen Personen, die entweder in herausgehobener Stellung tätig waren (Regierungschef des Distrikts Sulaimaniya, stellvertretender Geheimdienstchef) und deshalb von den Islamisten als bekämpfungswürdig betrachtet wurden, oder aber Personen, die in sonstiger Weise das Missfallen der Islamisten hervorgerufen haben sollen (Besitzerin eines Schönheitssalons, Cousine als Mitglied der kommunistischen Partei mit zu freizügiger Kleidung). Zu diesem Personenkreis zählt die Klägerin zu 1. nicht.

Ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 6 AuslG für die Klägerin zu 1. folgt gleichfalls nicht aus der von ihr geltend gemachten schwierigen Sicherheitslage im Irak, insbesondere unter dem Aspekt von Terroraktivitäten islamistischer Gruppen aus dem Umfeld von EI-Kaida, oder sonstigen Problemen mit Blick auf die wirtschaftliche Situation.

Der Klägerin zu 1. drohende extreme Leibes- oder Lebensgefahren sind jedenfalls innerhalb der kurdischen Autonomiegebiete des Nordiraks nicht zu besorgen. Dies gilt zunächst hinsichtlich eventueller Gefährdungen durch eine instabile Sicherheitslage. Der kurdisch bewohnte Norden des Iraks ist weitgehend befriedet; eine vergleichbare Häufigkeit von Terroranschlägen oder kriminellen Taten, wie in Teilen des Zentraliraks ist dort nicht zu verzeichnen (vgl. AA vom 7. August 2003, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak, Stand: Juli 2003).

Angesichts dessen kann eine extreme Gefahr im oben dargelegten Sinne für die Klägerin zu 1., in den Kurdengebieten als an sich Unbeteiligte Opfer eines terroristischen Anschlags oder einer kriminellen Tat zu werden, nicht angenommen werden.

Dass die Klägerin zu 1. wegen Problemen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Lage konkreten, hochgradigen Existenzgefährdungen in den kurdischen Autonomiegebieten ausgesetzt wäre, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Solches hat sie schon selbst nicht geltend gemacht. Im Übrigen ist die wirtschaftliche und soziale Lage in den autonomen Gebieten des Nordiraks durch das weitgehende Fehlen dortiger kriegsbedingter Kampfhandlungen und das Bestehen einer funktionierenden Verwaltung, Polizei und Justiz deutlich besser als im Zentral- oder Südirak (vgl. AA vom 7. August 2003, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak, Stand: Juli 2003).