OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.09.2003 - 7 A 10186/03.OVG - asyl.net: M4799
https://www.asyl.net/rsdb/M4799
Leitsatz:

§ 53 Abs. 6 AuslG für iranischen Staatsangehörigen wegen Gefahr der Retraumatisierung bei posttraumatischer Belastungsstörung infolge von Gefängnisaufenthalt.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Haft, Folter, Glaubwürdigkeit, Traumatisierte Flüchtlinge, Psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Situation bei Rückkehr, Medizinische Versorgung, Retraumatisierung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG wegen der Folgen, die bei einer Abschiebung in den Iran im Hinblick auf seine hier festzustellende seelische Erkrankung einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erwarten sind.

Nach den Erkenntnissen von Sachverständigengutachten, die in die mündliche Verhandlung eingeführt worden sind, handelt es sich bei der PTBS um einen anerkannten Krankheitsbegriff (DSM-IV - Statistischer Manual der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft; ICD-10 - International Classification of Diseases; vgl. dazu das Gutachten von Sona, an VG Düsseldorf, 1 K 819/02.A). Bei einer mittleren oder schweren PTBS werden als Langzeitfolgen allgemein beschrieben die Gefahren einer Chronifizierung einer schweren Persönlichkeitsstörung. Es kommt zu flash backs, d.h. immer wiederkehrenden Bildern des Erlebten, Albträumen, körperlichem Erleben der traumatischen Ereignisse, Panikattacken, einer phobischen Vermeidung angstauslösender Stimuli, z.B. von Orten, die an das Geschehen erinnern, Trancezuständen als Schutzmechanismus, dissoziativen Zuständen, d.h. Erleben von unrealen Zuständen, dem Gefühl im Bewusstsein gespalten zu sein, sich selbst von außen zu beobachten, als Person auseinander zu fallen, einem sozialen Rückzug, psychosomatischen Beschwerden aller Art, Angstzuständen, Depressionen, einer erhöhten Suizidrate, der Gefahr eines Substanzmissbrauchs als Selbstmedikation, auch in Form von Drogen und Alkohol zur Betäubung, pathologischen Trauerreaktionen. Die Chronifizierung dieses Leidens stellt damit eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben dar.

Anders als das Verwaltungsgericht annehmen will, kann die Feststellung der allgemeinen Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems im Iran, wonach die einschlägigen zur Behandlung geeigneten Medikamente verfügbar seien bzw. entsprechende psychiatrische Einrichtungen zur therapeutischen Behandlung vorhanden seien, die im vorliegenden Fall bestehende Gefahr ersichtlich nicht abwenden. Das Verwaltungsgericht übersieht dabei, dass die schweren Folgen der Krankheit nur durch eine Kombination aus Medikamentengabe und therapeutischen Bemühungen abgewendet werden könnten. Die hier vorliegende Traumatisierung durch Gefängnisaufenthalt und Folter im Iran stellt zudem einen Fall mit einer besonders ungünstigen Prognose, nämlich den Fall der von sog. "man made desasters" dar, wobei das Kernproblem der Traumatisierung die erlebte Hilflosigkeit ist. Neben dem erlittenen Trauma (sog. A-Kriterium) spielen die flash backs der Erinnerungen (sog. B-Kriterium) eine bestimmende Rolle im Krankheitsbild, so dass Nachhallerinnerungen dem Betroffenen das Gefühl vermitteln, die traumatische Situation wiederzuerleben. Daraus ergibt sich als sog. C-Kriterium das bewusste Vermeiden von Orten oder Menschen, die Erinnerungen wachrufen können. Das Kernproblem der Traumatisierung ist die erlebte Hilflosigkeit. Es ist in internationalen Studien übereinstimmend anerkannt, dass medikamentöse Behandlung nur mit zusätzlicher Psychotherapie langfristig erfolgreich sein kann und eine solche Therapie nur unter gleichsam geschützten Bedingungen, d.h. ohne die Gefahr des Wiederaufkeimens der Befürchtungen möglich sein kann. Es ist offenkundig, dass gerade die Abschiebung in den Verfolgerstaat einer solchen Zielsetzung diametral zuwiderläuft, abgesehen davon, dass wegen der Unberechenbarkeit des iranischen Systems (vgl. dazu zuletzt Senat, Urteil vom 11. März 2003, 7 A 11622/02.0VG) auch nach objektiven Gesichtspunkten für einen ehemaligen politischen Gefangenen keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung besteht. Umso weniger kann angenommen werden, es könne in einem solchen Klima möglich sein, dem Patienten das subjektive - für den Therapieerfolg unbedingt notwendige - Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.