BVerfG

Merkliste
Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 03.03.2004 - 2 BvR 26/04 - asyl.net: M4803
https://www.asyl.net/rsdb/M4803
Leitsatz:

Keine Auslieferung eines in Abwesenheit Verurteilten, wenn ihm weder die Durchführung des Strafverfahren noch dessen Ergebnis mitgeteilt worden war und er keine tatsächliche Möglichkeit hatte, sich wirksam zu verteidigen.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Bosnier, Straftäter, Auslieferung, Zulässigkeit, Italien (A), Freiheitsstrafe, Verurteilung in Abwesenheit, Rechtliches Gehör, Völkerrechtlicher Mindeststandard
Normen: GG Art. 103 Abs. 1; GG Art. 25
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit mit dem angegriffenen Beschluss die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt worden ist.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben die deutschen Gerichte bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Auslieferung grundsätzlich die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens eines ausländischen Strafurteils, zu dessen Vollstreckung der Verfolgte ausgeliefert werden soll, nicht nachzuprüfen. Sie sind indessen nicht an der Prüfung gehindert - und unter Umständen von Verfassungs wegen dazu verpflichtet -, ob die Auslieferung und ihr zu Grunde liegende Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind. Hierzu kann zumal Anlass bestehen, wenn ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfGE 59, 280 282 ff.>; 63, 332 >337> m.w.N.).

Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des Rechtsstaats, die insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht (Art. 103 Abs.1 GG) Ausprägung gefunden haben, dass niemand zum bloßen Gegenstand eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf; auch die Menschenwürde des Einzelnen (Art. 1 Abs. 1 GG) wäre durch ein solches staatliches Handeln verletzt (vgl. BVerfGE 7, 53 57 f.>; 7, 275 279>; 9, 89 95>; 39, 156 168>; 46, 202 210>; 55, 1 5 f.>; 63, 332 337>).

Der wesentliche Kern dieser Gewährleistungen gehört von Verfassungs wegen zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung, wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard, der über Art. 25 GG einen Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich geltenden Rechts bildet (vgl. BVerfGE 63, 332 338>).

Der einschlägigen völkerrechtlichen Praxis ist indessen nicht zu entnehmen, dass die Durchführung strafrechtlicher Abwesenheitsverfahren auch in Fällen gegen den völkerrechtlichen Mindeststandard verstieße, in denen der Betroffene von dem gegen ihn anhängigen Verfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich ihm durch Flucht entzogen hat und im Verfahren von einem ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt werden konnte (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 m.w.N.).

Eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils ist bei Anlegung dieser Maßstäbe von Verfassungs wegen unzulässig, sofern der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war, noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen (vgl. BVerfGE 63, 332 338>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Januar 1991, a.a.O.).

Den vorgenannten verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine zulässige Auslieferung hat das Oberlandesgericht nicht hinreichend Rechnung getragen. Das Oberlandesgericht hat nicht festgestellt, dass der Beschwerdeführer Kenntnis von dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren gehabt hat. Es kann aber auch nicht festgestellt werden, dass ihm nachträglich die tatsächlich wirksame Möglichkeit eingeräumt wurde, sich zu den Vorwürfen unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen zu verteidigen.