Zur Ausweisung eines türkischen Straftäters. (Leitsatz der Redaktion)
Die Klage gilt nicht gemäß § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO als zurückgenommen, weil im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung ungeachtet mehrmaliger erfolgloser Erinnerung an die angekündigte Klagebegründung keine sachlich begründeten Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestanden haben.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gilt dieses zu den entsprechenden asylverfahrensrechtlichen Regelungen entwickelte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal auch für § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Hiernach genügt die fehlende Klagebegründung, die durch die Verwaltungsgerichtsordnung nicht zwingend vorgeschrieben ist, für sich genommen nicht generell für die Annahme eines Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. September 2002 - 1 C 103/02 -, InfAuslR 2003, 77, vom 12. April 2001 - 8 B 2/01 -, NVwZ 2001, 918 und Beschluss vom 5. Juli 2000 - 8 C 119/00 -, NVwZ 2000, 1297).
Im vorliegenden Fall lagen keine sachlich begründeten Anhaltspunkte für ein Desinteresse des Klägers an der Weiterverfolgung seiner Anfechtungsklage vor. Aus der Ausweisungsverfügung vom 27. März 2000 und dem Widerspruchsbescheid vom 19. April 2001, die der Klageschrift beigefügt waren, ergab sich, dass der Antragsteller sich noch im Bundesgebiet aufhielt. Er befand sich noch für einen längeren Zeitraum in Strafhaft, weil er am 25. Juni 1999 zunächst zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 3 Monaten und sodann am 7. April 2000 unter Einbeziehung der vorgenannten Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden war. Bei der Ausweisung geht es erkennbar um eine für den Antragsteller existenzielle Angelegenheit. Er selbst lebte bei Erlass der Ausweisungsverfügung seit 10 Jahren im Bundesgebiet und besaß eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Bei ihm lebten seine Ehefrau und die beiden 1988 und 1998 geborenen Kinder. Der Antragsteller selbst hatte im Anhörungsverfahren nachdrücklich darauf hingewiesen, dass er seinen Aufenthalt in Deutschland mit seiner Familie fortsetzen wollte, zumal seine Ehefrau seit 15 Jahren (richtig: von 1974 bis 1984 und seit 1997) hier lebe.
Nicht zu folgen ist der Auffassung des Antragstellers, die Abwägung der gegenläufigen Vollzugsinteressen müsse schon deswegen zu seinen Gunsten ausfallen, weil er als durch Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970, BGBl. II 1972, 385 - Zusatzprotokoll - zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase, BGBl. II 1964, 509 - Assoziierungsabkommen - begünstigter Gewerbetreibender nur aufgrund einer Ermessensentscheidung nach Maßgabe des bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls geltenden § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965 hätte ausgewiesen werden dürfen.
Der Senat legt mit dem Verwaltungsgericht zugrunde, dass der Antragsteller zu dem durch Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls begünstigten Personenkreis gehört, zu den Voraussetzungen vgl. EuGH, Urteil vom 11. Mai 2000 - C 37/98 - (Savas), InfAuslR 2000, 326.
Der Senat geht weiter davon aus, dass der Antragsteller diese Rechtsposition durch seine Untersuchungs- und Strafhaft (seit dem 10. Juni bzw. seit dem 7. Dezember 1999) nicht verloren hat. Die Argumentation, die Bedeutung der Untersuchungs- und Strafhaft könne bei selbständig Erwerbstätigen keine andere sein als im Rahmen von Art. 6 Abs.1 3. Spiegelstrich des Beschlusses 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei vom 19. September 1980 (ANBA 1981/4) - Assoziationsratsbeschluss/ARB 1/80 -, erscheint plausibel. Nach der ständigen Rechtsprechung gerät das aus dem Erwerb der Rechtsposition nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 folgende assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht durch später erlittene Untersuchungs- bzw. Strafhaft nicht in Wegfall, weil diese nicht auf ein endgültiges Verlassen des Arbeitsmarktes schließen lassen (vgl. OVG NRW, Urteile vom 6. Dezember 1995 - 17 A 3370/94 - und vom 13. Juni 2001 - 17 A 5552/00 -, InfAuslR 2001, 424; zur Untersuchungshaft vgl. EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000 - C 340/97 - (Nazli), InfAuslR 2000, 161.
Entgegen der Auffassung des Antragstellers ergibt sich aus der Begründung des vorerwähnten Urteils des beschließenden Senats vom 13. Juni 2001 aber nicht, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls die Ausweisung selbständig Erwerbstätiger, denen Aufenthalt und Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit nach inländischem Ausländerrecht gestattet worden waren, auf der Grundlage von § 47 Abs. 1 AuslG ausschließt.
Der Gesichtspunkt, dass das Zusatzprotokoll das Stillhaltegebot des Art. 41 Abs. 1, das demjenigen nach Art. 13 ARB 1/80 entspricht, nicht ausdrücklich einer dem Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 entsprechenden Vorbehaltsklausel unterwirft und ein Beschluss des Assoziationsrates für den Bereich der Niederlassungsfreiheit (und des Dienstleistungsverkehrs) nicht ergangen ist, deutet nur vordergründig darauf hin, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls keinen Ausnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit unterläge. Eine dahingehende Annahme ließe unberücksichtigt, dass das Zusatzprotokoll in Art. 36 - schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach den vom Assoziationsrat festzulegenden Regeln - und in Art. 41 Abs. 2 - schrittweise Beseitigung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs - auf die Vorgaben in Art. 12, 13 und 14 des Assoziierungsabkommens Bezug nimmt und an sie anknüpft.
Die in den Art. 12, 13 und 14 des Assoziierungsabkommens getroffene Vereinbarung, sich bei der schrittweisen Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs von den in den in Bezug genommenen Vertragsbestimmungen des Gemeinschaftsrechts (einschließlich der jeweiligen Vorbehaltsklauseln aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit) leiten zu lassen, legt die Folgerung nahe, dass die Gleichstellung türkischer Staatsangehöriger mit Angehörigen der Gemeinschaft in allen vom Assoziierungsabkommen erfassten Bereichen nicht nur Ziel, sondern zugleich auch immanente Grenze des Assoziationsrechts ist und dass die den türkischen Staatsangehörigen durch das Assoziationsrecht eingeräumten Rechte ausnahmslos den Einschränkungen unterliegen, die für Angehörige der Gemeinschaft gelten.
Soweit der Antragsteller seine Ausweisung für mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar hält, kann ihm nicht gefolgt werden.
Der Antragsteller stellt zu Recht nicht in Abrede, dass bei Verurteilungen zu einer hohen Freiheitsstrafe wegen umfangreichen Heroin- und Kokainhandels wie hier Grundinteressen der Gesellschaft berührt werden. Er bestreitet aber das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr und stützt sich dabei auf Erkenntnisse über seine Entwicklung im Strafvollzug, aus dem er im Juli 2003 nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Strafe unter Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung entlassen worden ist.
In Würdigung des kriminellen Verhaltens des Antragstellers, seiner Entwicklung im Strafvollzug und seiner persönlichen Lebensverhältnisse ist auch im gegenwärtigen Zeitpunkt eine erneute Verstrickung in die Betäubungsmittelkriminalität, namentlich in den Handel mit harten Drogen, ernsthaft zu besorgen.
Die Ausweisung erweist sich schließlich nicht wegen ihrer Folgen für den Antragsteller und seine Familie als unverhältnismäßig. Der Antragsteller, seine Ehefrau und der ältere Sohn haben lange in der Türkei gelebt, haben dort Angehörige und sind mit den dortigen Lebensverhältnissen vertraut. Die Tochter ist mit jetzt 5 oder 6 Jahren in einem Alter, in dem Kinder den Wechsel des sozialen Umfeldes relativ gut verkraften. Die Entscheidung, ob die familiäre Lebensgemeinschaft in der Türkei fortgeführt werden oder eine Trennung bis zu einer Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Kauf genommen werden soll, obliegt allein den Eheleuten.