OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.10.2003 - 15 A 459/98.A - asyl.net: M4942
https://www.asyl.net/rsdb/M4942
Leitsatz:

Nach einem Freispruch durch das Staatssicherheitsgericht in der Türkei besteht hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in Zusammenhang mit dem ursprünglichen Anklagepunkt.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, Haft, Folter, Strafverfolgung, Staatssicherheitsgericht, Freispruch, Vorverfolgung, Herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Zukunftsprognose, Wehrdienstentziehung, Sippenhaft, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Demonstrationen
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung, dass die Voraussetzungen für einen Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG bzw. Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen, zu Recht abgewiesen.

Im vorliegenden Fall ist der herabgestufte Prognosemaßstab des Erfordernisses hinreichender Verfolgungssicherheit zu Grunde zu legen. Denn der Kläger ist im (...) als politisch Verfolgter aus der Türkei ausgereist. Wie sich aus der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 11. Juli 2003 ergibt, ist der Kläger, seinem Vortrag entsprechend, vor dem (...) angeklagt worden. Das Verfahren wurde durch Urteil vom (...) abgeschlossen, sodass der Kläger, der kurz zuvor in die Bundesrepublik einreiste, dies noch unter dem Druck dieses Verfahrens tat. Der Senat unterstellt auch die von ihm behauptete menschenrechtswidrige Behandlung im Rahmen der Festnahme und Anklage (...) als richtig.

Indes ist der Kläger heute hinreichend sicher vor politischer Verfolgung. Er wurde nämlich vom Staatssicherheitsgericht, wie sich ebenfalls aus der bereits genannten Stellungnahme des Auswärtigen Amtes ergibt, rechtskräftig freigesprochen. Da der Kläger eine Vorverfolgung im Hinblick auf die ihm vorgeworfene, zur Anklageerhebung führende Unterstützung der PKK erlitten hat, kommt es für die Frage künftiger Verfolgungssicherheit auf eine mögliche erneute Verfolgung unter diesem Aspekt an.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist der Umstand eines Freispruchs durch das Staatssicherheitsgericht für die Frage der Verfolgungssicherheit von Bedeutung. Seine Meinung, dass trotz Freispruchs weiterhin eine Gefahr politischer Verfolgung bestehe, trifft nicht zu. Die von ihm im Schriftsatz vom 28. Mai 2002 zitierten Auskünfte verhalten sich allgemein zur Praxis der Strafverfolgungsbehörden, eigene Vorgänge neben den Gerichtsakten über eingeleitete Strafverfolgungsmaßnahmen oder sogar Erkenntnisse im Vorfeld eigentlicher Strafverfolgungsmaßnahmen zu führen (sog. Fisleme). (vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 91 des amtlichen Umdrucks).

An dieser - auch in Deutschland üblichen (sog. Kriminalakten) - Praxis ist asylrechtlich nichts auszusetzen. Sie dient dem legitimen Interesse der Strafverfolgungsbehörden, mittels einer personenbezogenen Sammlung strafrechtlich relevanter Erkenntnisse die Erforschung und Verhütung zukünftiger Straftaten zu verbessern.

Aus dieser Praxis ergibt sich insbesondere nicht, dass trotz erfolgten Freispruchs durch ein Staatssicherheitsgericht die Sicherheitsbehörden wegen eines bei ihnen weiter bestehenden Verdachts in asylerheblicher Weise gegen den Freigesprochenen vorgehen. Im Gegenteil hat das Auswärtige Amt auf Frage des erkennenden Gerichts, ob sich nach derzeitigem Erkenntnisstand eine allgemeine Aussage darüber treffen lasse, ob ein von einem Staatssicherheitsgericht Freigesprochener trotz dieses Freispruchs auch weiterhin einem erhöhten Risiko ausgesetzt sei, in asylerheblicher Weise behandelt zu werden, mit Stellungnahme vom 8. April 2003 mitgeteilt, dass ihm keine Fälle bekannt seien, in denen freigesprochene Personen trotz dieses Freispruchs in asylerheblicher Weise behandelt worden seien. Angesichts des Umstandes, dass ein Freispruch durch ein Staatssicherheitsgericht nicht selten ist, folgt aus der fehlenden Erkenntnis über Fälle dennoch fortgesetzter politischer Verfolgung in solchen Konstellationen, dass es solche nicht gibt und daher nach erfolgtem Freispruch hinreichende Verfolgungssicherheit besteht. Dies gilt erst recht angesichts des Umstandes, dass sich heute die politische Situation um das Kurdenproblem durch die Festnahme des PKK-Anführers Öcalan, die Beendigung der separatistischen Gewalttätigkeiten, die vollständige Aufhebung des Ausnahmezustands und die politischen Veränderungen in der Türkei im Rahmen der Annäherung an die EU und der veränderten politischen Machtverhältnisse mit der neuen Regierung deutlich entspannt hat.

An dieser Bewertung ändert sich nichts, wenn man den Umstand, dass sich der Kläger dem Wehrdienst entzogen hat, in die Betrachtung einbezieht. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts findet in der Türkei eine politische Verfolgung im Rahmen der Ableistung des Wehrdienstes oder bei einer Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung gegenüber Kurden nicht statt. Wehrdienstentziehung ist ein Massendelikt, dem aus der maßgeblichen Sicht des türkischen Staates keine separatistische Tendenz innewohnt, sondern das in der Zeit der militärischen Auseinandersetzung mit dem gewalttätigen Separatismus der PKK vor allem aus Angst davor begangen wurde, von der kurdischen Guerilla getötet zu werden (vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 55 ff. des amtlichen Umdrucks).

Daher spricht nichts dafür, dass die Behandlung der Wehrdienstentziehung deshalb in politische Verfolgung umschlagen könnte, weil der Betreffende früher einer vom Staatssicherheitsgericht durch Freispruch beendeten Anklage ausgesetzt war.

Auch nach der Ausreise des Klägers aus der Türkei sind keine Umstände eingetreten, die nunmehr die hinreichende Verfolgungssicherheit ausschlössen. Seine exilpolitischen Aktivitäten gehen über die schlichte Teilnahme an Demonstrationen und Veranstaltungen, die gelegentliche Übernahme der Funktion eines Ordners, die Mitgliedschaft in einem kurdischen Verein und das Zahlen monatlicher Beiträge nicht hinaus. Exilpolitische Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland begründen nämlich nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts ein Verfolgungsrisiko für türkische Staatsangehörige im Allgemeinen nur, wenn sich der Betreffende politisch exponiert hat, wenn sich also seine Betätigung deutlich von derjenigen der breiten Masse abhebt.