OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.03.2004 - 12 A 3543/01 - asyl.net: M5027
https://www.asyl.net/rsdb/M5027
Leitsatz:

Einkommen aller Verwandten und Verschwägerten anrechenbar.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Duldung, BSHG, Sozialhilfe, Einkommen, Vermögen, Aufbrauchspflicht, Familienangehörige, Kernfamilie, Großfamilie, Auslegung, Bestimmtheitsgebot
Normen: AsylbLG § 3 ; AsylbLG § 7 Abs. 1 S. 1 ; BSHG § 16
Auszüge:

Einem Anspruch der sonach im entscheidungserheblichen Zeitraum dem Leistungsrecht des Asylbewerberleistungsgesetzes zuzuordnenden Klägerinnen auf Gewährung von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG 1993 steht indes § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG 1993 entgegen. Danach sind Einkommen und Vermögen, über das verfügt werden kann, von dem Leistungsberechtigten und seinen Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben, vor Eintritt von Leistungen nach diesem Gesetz aufzubrauchen. Die Einbeziehung der Familienangehörigen bedeutet, dass ein Leistungsberechtigter im Sinne des § 1 Abs. 1 AsylbLG 1993 erst dann Leistungen nach § 3 AsylbLG 1993 beanspruchen kann, wenn zuvor sein eigenes Einkommen und Vermögen sowie das - ihm zurechenbare - Einkommen und Vermögen seiner im selben Haushalt lebenden Familienangehörigen aufgebraucht worden sind (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Juli 1996 - 8 B 771/96 -, abgedruckt in Fritz/Hohm/Vormeier (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar zum Asylbewerberleistungsgesetz (GK-AsylbLG), Stand: Dezember 2003, VII - zu § 7 Abs. 1 (OVG-Nr. 2); Hohm in GK-AsylbLG, § 7 Rn. 12; Birk in Bundessozialhilfegesetz, Lehr- und Praxiskommentar (LPK-BSHG), 6. Aufl. 2003, § 7 AsylbLG, Rn. 2).

Aus § 3 Abs. 1 Satz 1 und § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG 1993 folgt, dass - wie auch im Sozialhilferecht - derjenige keinen Anspruch auf Leistungen hat, der in der Lage ist, den Bedarf an notwendigem Lebensunterhalt entweder aus eigenem (bzw. ihm zurechenbaren) Einkommen oder aus eigenem (bzw. ihm zurechenbaren) Vermögen zu decken. Da das (Nicht-)Vorhandensein vorrangig einzusetzender eigener Mittel Voraussetzung für den Anspruch auch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist, obliegt es dem Hilfe suchenden Asylbewerber, darzulegen und nachzuweisen, dass er nicht über Einkommen oder Vermögen verfügt, das zur Deckung des Bedarfs gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG 1993 eingesetzt werden kann. Die Nichtaufklärbarkeit dieser Anspruchsvoraussetzung geht zu seinen Lasten (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 16. Juli 1996 - 8 B 771/96 -, a.a.O., und vom 17. Juni 1997 - 8 B 203/97 -, GK-AsylbLG VII - zu § 7 Abs. 1, OVG-Nr. 3).

Auf Grund der nach diesen Grundsätzen getroffenen Feststellungen stand den Klägerinnen im entscheidungserheblichen Zeitraum zur Bedarfsdeckung ausreichendes Einkommen zur Verfügung....

Die Klägerinnen haben sich das Einkommen ihres Bruders und ihres Schwagers anrechnen zu lassen, weil es sich bei diesen Personen um ihre Familienangehörigen im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG 1993 handelt. Familienangehörige in diesem Sinne sind entgegen der im angefochtenen Urteil vertretenen Auffassung über den Ehegatten und die minderjährigen Kinder des Leistungsberechtigten hinaus generell Verwandte und Verschwägerte (vgl. § 16 BSHG).

Das Asylbewerberleistungsgesetz definiert den Begriff des Familienangehörigen im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG nicht. Eine Legaldefinition ergibt sich auch nicht mittelbar aus § 2 Abs. 2 AsylbLG 1993. Diese Vorschrift enthält eine Regelung über die Anwendung des Absatz 1 Nr. 2 auf "Familienangehörige im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 3", der seinerseits nur Ehegatten und minderjährige Kinder eines leistungsberechtigten Ausländers nennt. Entsprechendes gilt für die durch das zweite Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 25. August 1998 (BGBl. I S. 2505) eingefügte Bestimmung des § 1a, in der von Leistungsberechtigten und ihren Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 die Rede ist. § 1 Abs. 1 Nr. 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022) - AsylbLG 1997 - erwähnt ebenfalls nur Ehegatten und minderjährige Kinder. Aus diesen Vorschriften wird abgeleitet, dass der Begriff "Familienangehörige" in § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sich gleichfalls nur auf Ehegatten und minderjährige Kinder beziehe (in diesem Sinne auch VG Münster, Beschluss vom 30. März 1995 - 5 L 326/95 -, GK-AsylbLG VII - zu § 7 Abs. 1 (VG-Nr. 1) = NVwZ 1996, S. 96; Hohm in GK-AsylbLG, § 7 Rn. 52 f.; ders. in W.Schellhorn/H.Schellhorn, BSHG, 16. Aufl. 2002, AsylbLG § 7 Rn. 12; Birk, a.a.O., § 7 AsylbLG, Rn. 2; Fasselt in Fichtner, BSHG, 2. Aufl. 2003, § 7 AsylbLG, Rn. 6 jeweils m.w.N.; in diese Richtung tendierend auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Mai 1999 - 4 L 2032/99 -, GK- AsylbLG VII - zu § 7 Abs. 1, OVG-Nr. 4).

Diese Argumentation überzeugt nicht; im Gegenteil sprechen § 2 Abs. 2 AsylbLG 1993 und der 1998 eingefügte § 1a AsylbLG für eine weite Auslegung des Begriffs "Familienangehörige" in § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG.

Im allgemeinen Sprachgebrauch werden als (Familien-)Angehörige auch Verwandte wie die Großeltern oder Onkel und Tante sowie Schwager und Schwägerin bezeichnet, wenn auch unter "Familie" nicht selten die aus Eltern und ihren minderjährigen Kindern bestehende Kleinfamilie verstanden wird. Dieser allgemeine - an der Großfamilie orientierte - Gebrauch des Begriffs "(Familien-)Angehörige" hat in verschiedenen Gesetzen seinen Niederschlag gefunden.

Auch den Gesetzesmaterialien lässt sich nicht entnehmen, dass mit dem Begriff "Familienangehörige" in § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG nur der Ehegatte und die minderjährigen Kinder des Leistungsberechtigten gemeint sind.

Für eine weite Auslegung des Begriffs "Familienangehörige" in § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sprechen entscheidend Sinn und Zweck der Vorschrift und des gesamten Asylbewerberleistungsgesetzes.

Die Erforderlichkeit einer weiten Auslegung ergibt sich vor allem aus dem vom Gesetzgeber mit der Schaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes verfolgten Ziel. Dieses Gesetz stellt eine vom Bundessozialhilfegesetz weitgehend abgekoppelte, an Vorschriften des Ausländer- und Asylrechts anknüpfende, eigenständige einfachgesetzliche Grundlage zur Sicherung des Mindestunterhalts von Asylbewerbern und sonstigen Ausländern mit noch nicht verfestigtem Bleiberecht für die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland dar (vgl. Hohm in W.Schellhorn/H.Schellhorn, a.a.O., AsylbLG, Vorbemerkung Rn. 1).

Durch das im Vergleich zu Sozialhilfeleistungen deutlich niedrigere Niveau der Asylbewerberleistungen und durch weitere Einschränkungen, z.B. den prinzipiellen Vorrang von Sachleistungen nach § 3 Abs. 1 AsylbLG, sollte jeder Anreiz für Ausländer, aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland zu kommen, beseitigt werden (vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Dezember 2000 - 22 A 3164/99 -, S. 13 des Urteilsabdrucks, mit weiteren Nachweisen).

Dem Gesetzeszweck, Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gegenüber Leistungsberechtigten nach dem Bundessozialhilfegesetz herabzustufen und strengeren Beschränkungen zu unterwerfen, muss auch bei der Auslegung des § 7 AsylbLG Rechnung getragen werden.

Hinsichtlich des von § 11 Abs. 1 und § 16 BSHG erfassten Personenkreises kann der Grundgedanke des Asylbewerberleistungsgesetzes, Leistungsberechtigte nach diesem Gesetz strengeren Regelungen zu unterwerfen als Sozialhilfeempfänger, zwanglos dadurch verwirklicht werden, dass man unter "Familienangehörige" sowohl die in § 11 Abs. 1 BSHG genannten Ehegatten und minderjährigen Kinder als auch die in § 16 BSHG genannten Verwandten und Verschwägerten versteht. Das führt zu dem Ergebnis, dass Leistungsberechtigte im Sinne des Asylbewerberleistungsgesetzes, die mit einem Verwandten oder Verschwägerten im selben Haushalt leben, sich dessen Einkommen und Vermögen uneingeschränkt zurechnen lassen müssen. Dadurch sind sie leistungsrechtlich schlechter gestellt als Sozialhilfeberechtigte, zu deren Lasten nach § 16 Satz 1 BSHG lediglich die widerlegbare Vermutung eingreift, dass sie von Verwandten oder Verschwägerten Leistungen zum Lebensunterhalt erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann. Außerdem setzt § 16 Satz 1 BSHG das Bestehen einer Haushaltsgemeinschaft voraus, an die höhere Anforderungen zu stellen sind als an ein Leben im selben Haushalt. Das bedeutet, dass § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG die Funktion des § 16 BSHG im Asylbewerberleistungsrecht übernimmt und die dort getroffene Regelung verschärft (so VG Hamburg, Beschluss vom 13. Oktober 1998 - 8 VG 3451/98 -, a.a.O.; vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch VG Braunschweig, Beschluss vom 30. März 1998 - 3 B 3071/98 -, ZfF 2000, S. 109, 110). Spricht demnach Überwiegendes dafür, Verwandte und Verschwägerte als Familienangehörige im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG anzusehen, lässt sich der vom Begriff erfasste Personenkreis eindeutig bestimmen. Es kann deshalb dahinstehen, ob die durch § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG begründete Verpflichtung, Einkommen nahezu vollständig und Vermögen ausnahmslos aufzubrauchen, einen Eingriff in den Schutzbereich des grundrechtlich gewährleisteten Eigentums der Familienangehörigen bewirkt, der einer hinreichend bestimmten einfachgesetzlichen Festlegung des in die Aufbrauchpflicht einbezogenen Personenkreises bedarf. Selbst wenn man diese Frage bejahte, folgte daraus nicht die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG im Sinne einer Verengung der Einsatzpflicht auf Einkommen und Vermögen des Leistungsberechtigten, seines Ehegatten und der minderjährigen Kinder (so aber VG Frankfurt am Main, Beschluss vom 25. Mai 2000 - 3 G 2350/00 (V) -, a.a.O.; VG München, Urteil vom 23. Februar 2001 - M 6a K 00.5157-, a.a.O.; VG Düsseldorf, Urteile vom 23. März 2001 - 13 K 7524/98 -, GK-AsylbLG VII - zu § 7 Abs. 1 (VG-Nr. 23), und vom 29. Juni 2001 - 13 K 2527/99 -, SAR-aktuell 2002, S. 31; Hohm in GK-AsylbLG, § 7 Rn. 59).

Denn durch das dargelegte Verständnis gewinnt der Begriff "Familienangehörige" eine scharfe Kontur, sodass er den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes genügt. Aus diesem Grund kommt es auch nicht darauf an, ob die verfassungsrechtlichen Bedenken durch das Argument ausgeräumt werden können, § 7 Abs. 1 AsylbLG greife nicht unmittelbar in das Grundrecht der Familienangehörigen aus Art. 14 Abs. 1 GG ein, weil die Aufnahme eines Asylbewerberleistungsberechtigten in ihren Haushalt auf einer freiwilligen Entscheidung beruhe (so VG Hamburg, Beschluss vom 13. Oktober 1998 - 8 VG 3451/98 -, a.a.O; kritisch VG Frankfurt am Main, Beschluss vom 25. Mai 2000 - 3 G 2350/00 (V) -, a.a.O., und Hohm in GK-AsylbLG, § 7 Rn. 60).

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, weil höchstrichterlich noch nicht geklärt ist, wie der Begriff "Familienangehörige" in § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG auszulegen ist.