VG Braunschweig

Merkliste
Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 17.03.2004 - 6 B 177/04 - asyl.net: M5052
https://www.asyl.net/rsdb/M5052
Leitsatz:

1. Zum Anspruch volljähriger und minderjähriger Kinder einer vorübergehend aus gesundheitlichen Gründen nach Abschluss der Asylverfahren im Bundesgebiet geduldeten Ausländerin auf Erteilung von Duldungen.

2. Art. 3 EMRK steht der Abschiebung von Minderjährigen ohne ihre Eltern nicht generell entgegen.

3. Aus der UN-Kinderrechtskonvention lässt sich ein Abschiebungshindernis nicht herleiten.

4. Die Erteilung einer Duldung nach § 43 Abs. 3 AsylVfG steht im Ermessen der Behörde; der Vorschrift lässt sich nicht entnehmen, dass die Duldung dem Ausländer im Regelfall zu erteilen ist. Für volljährige Kinder ist die Regelung auch nicht analog anwendbar. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Abgelehnte Asylbewerber, Krankheit, Duldung, Reisefähigkeit, Familienangehörige, Kinder, Abschiebungshindernis, Duldungsgründe, Schutz von Ehe und Familie, UN-Kinderrechtskonvention, Aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Abschiebung, Zumutbarkeit, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AuslG § 55 Abs. 2; AuslG § 55 Abs. 3; AuslG § 53 Abs. 4; EMRK Art. 3; EMRK Art. 8; GG Art. 6; AsylVfG § 43 Abs. 3; VwGO § 123
Auszüge:

Einen Duldungsgrund i.S.d. § 55 Abs. 2 AuslG haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Ein zwingendes Abschiebungshindernis kann sich insbesondere auch aus dem Grundrecht nach Art. 6 Abs. 1 GG ergeben, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt. Dieses Grundrecht verpflichtet die zuständigen Behörden und Gerichte, bei der Entscheidung über den Aufenthalt eines Ausländers dessen familiäre Bindungen im Bundesgebiet angemessen zu berücksichtigen. Ein zwingendes Abschiebungshindernis liegt danach vor, wenn es dem Ausländer unter Abwägung seiner familiären Bindungen und der für die Durchsetzung der Ausreisepflicht sprechenden öffentlichen Interessen nicht zuzumuten ist, seine im Bundesgebiet bestehenden Beziehungen durch eine Ausreise zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urt. vom 09.12.1997, BVerwGE 106, 13, 17 f. m.w.N.). Dies ist nach gegenwärtigem Sachstand hier jedoch nicht der Fall.

Mit der Abschiebung der Antragsteller soll ihre durch die Ablehnung des Asylantrages begründete Pflicht zur Ausreise durchgesetzt werden. Es besteht grundsätzlich ein beachtliches öffentliches Interesse daran, dass Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus ihrem erfolglos gebliebenen Asylantrag hergeleitet hat, das Bundesgebiet nach Abschluss des Asylverfahrens wieder verlassen, weil die Fähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, Ausländer auf Dauer aufzunehmen, zur Vermeidung wirtschaftlicher und sozialer Probleme begrenzt ist (VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 15.05.1996, DVBl. 1996, 1267, 1270 m.w.N.).

Unter Berücksichtigung dieser öffentlichen Interessen ist den Antragstellern die vorübergehende Trennung von ihren Eltern, die aufgrund einer Erkrankung der Mutter der Antragsteller vorerst nicht abgeschoben werden sollen, zuzumuten. Die Antragsteller zu 1) und zu 2) sind am (...) geboren und damit volljährig. Ihre Trennung von den Eltern ist unbedenklich, weil nicht ersichtlich ist, dass besondere Lebensverhältnisse bestehen, die einen über die Aufrechterhaltung einer Begegnungsgemeinschaft hinausgehenden familienrechtlichen Schutz angezeigt erscheinen lassen (vgl. dazu BVerfG, Beschl. vom 18.04.1989, BVerfGE 80, 81, 94 f.; Beschl. vom 25.10.1995, NVwZ 1996, 1099, 1099 f.; VGH Baden-Württemberg, aaO., S. 1269 f.).

Gegenwärtig ist auch nicht ersichtlich, dass sich aus dem Grundrecht nach Art. 6 Abs. 1 GG für die Antragstellerin zu 3) weiter gehende Schutzwirkungen ergeben. Die am (...) geborene Antragstellerin ist zwar noch minderjährig. Zu berücksichtigen ist aber, dass gegenwärtig nicht von einer dauerhaften Trennung der Antragstellerin von ihren vorerst im Bundesgebiet verbleibenden und ebenfalls ausreisepflichtigen Eltern ausgegangen werden kann. Die amtsärztliche Stellungnahme vom (...) kommt aufgrund der bislang unter der medikamentösen Behandlung der Mutter festgestellten Fortschritte zu dem Ergebnis, dass der Zustand der Mutter, der gegenwärtig zur Reiseunfähigkeit führe, sich in den nächsten sechs Monaten möglicherweise deutlich stabilisieren lasse. Anders als bei Kleinkindern, für die eine Trennung von den Eltern schon bei verhältnismäßig kurzer Dauer unzumutbar sein kann, kann für die inzwischen fast 17 ½ Jahre alte Antragstellerin nicht davon ausgegangen werden, dass sich eine vorübergehende Trennung in vergleichbarem Umfang negativ auswirken würde (vgl. dazu BVerfG, Beschl. vom 31.08.1999, NVwZ 2000, 59, 60).

Zwar hat die Ausländerbehörde und nicht das Bundesamt vor der zu einer Trennung von Familienangehörigen führenden Abschiebung grundsätzlich auch zu prüfen, ob trennungsbedingte mittelbare Gefahren im Zielstaat der Abschiebung Vollstreckungshindernisse begründen (BVerwG, Urt. vom 21.09.1999, BVerwGE 109, 305, 311 f.). Es ist jedoch nicht glaubhaft gemacht, dass insbesondere die noch minderjährige Antragsgegnerin zu 3) im Kosovo ohne Beistand wäre und deshalb alsbald in eine existenzielle Notlage geraten könnte.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK i.V.m. § 53 Abs. 4 AuslG vermittelt im vorliegenden Fall keinen über die Wirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG hinausgehenden Schutz.

Auch aus § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK lässt sich ein rechtliches Abschiebungshindernis hier nicht herleiten. Die Regelung steht einer Abschiebung von (unbegleiteten) Minderjährigen nicht generell entgegen. Anhaltspunkte dafür, dass sich um die Antragstellerin zu 3) im Kosovo niemand kümmern würde und ihre Abschiebung zu schweren psychischen Gesundheitsgefahren führen könnte, gibt es nicht (vgl. Hailbronner, aaO., § 53 Rn 44). Aus Art. 1, 20 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (UN-Kinderrechtskonvention, BGBl. 1992 II S. 122) lässt sich schon nach Wortlaut und Regelungszweck ein Abschiebungshindernis nicht herleiten (im Ergebnis ebenso Hailbronner, aaO., § 53 Rn 44 m.w.N. zur Gegenansicht); im Übrigen lässt das Übereinkommen in Art. 9 Abs. 4 eine Trennung von Eltern und ihren Kindern als Folge einer Abschiebung zu.

Aus der Regelung in § 43 Abs. 3 AsylVfG, nach der die Ausländerbehörde Duldungen erteilen darf, um die gemeinsame Ausreise von Eltern und ihren minderjährigen Kindern zu ermöglichen, können die Antragsteller keine weiter reichenden Ansprüche herleiten. Auch diese Entscheidung steht nach dem Wortlaut der Regelung im Ermessen der Behörde; Anhaltspunkte für einen im Regelfall bestehenden Duldungsanspruch enthält das Gesetz nicht (ebenso bereits VG Braunschweig, Beschl. vom 08.11.1999 - 6 B 278/99 - und Hailbronner, aaO., § 43 AsylVfG Rn 23 m.w.N. auch zur Gegenansicht). Für volljährige Kinder wie die Antragsteller zu 1) und 2) ist die Regelung auch nicht analog anwendbar (Hailbronner, aaO., § 43 AsylVfG Rn 16). Im Übrigen ist nicht glaubhaft gemacht, dass ein Anspruch auf Duldung besteht. Die Regelung in § 43 Abs. 3 AsylVfG dient ausschließlich dem Interesse des Ausländers auf Wahrung der nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familieneinheit (ebenso Hailbronner, aaO., § 43 AsylVfG Rn 22). Unter diesem Gesichtspunkt ist den Antragstellern und ihren Eltern die (vorübergehende) Trennung aus den dargelegten Gründen zumutbar.