VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 30.06.2003 - 8 A 43/02 - asyl.net: M5086
https://www.asyl.net/rsdb/M5086
Leitsatz:

1. Die zuständige Ausländerbehörde kann den Wegfall einer auf Krankheit beruhenden extremen Gefahrenlage im Sinne der verfassungskonformen Auslegung des § 53 Abs, 6 AuslG bewirken, indem sie für den Ausländer die Behandlung vor Ort im Herkunftsstaat sicherstellt und finanziert.

2. Die von der Ausländerbehörde in diesem Zusammenhang ergriffenen oder zugesagten Maßnahmen müssen jedoch so konkret und Erfolg versprechend sein, dass sie eine Unterbrechung des Kausalverlaufs erwarten lassen, der ansonsten alsbald zum Tod oder schwersten Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit des Ausländers führen würde. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Armenien, Krankheit, Hypertonie, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Soziale Bindungen, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage
Normen: AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung der Beklagten, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG vorliegen.

Die Klägerin ist (...) Jahre und leidet unter starkem Bluthochdruck.

Zu Unrecht bezweifelt die Klägerin, dass die in ihrem Fall erforderlichen Medikamente in Armenien erhältlich sind. Denn ausweislich des amtsärztlichen Gutachtens vom 25. März 2003 wird die Klägerin im Bundesgebiet mit gängigen Medikamenten im Wege einer gängigen Dreifach-Medikation behandelt. Es handelt sich bei den von ihr eingenommenen Tabletten um gängige Medikamente.

Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihren Medikamentenbedarf in Armenien auch zu finanzieren vermag. Nach ihren glaubhaften Angaben im gerichtlichen Verfahren erhielt die Klägerin in Armenien zuletzt eine Rente von monatlich 6000 Dram. 590 Dram haben gegenwärtig etwa einen Wert von 1 US Dollar (Deutsche Botschaft in Eriwan, Auskunft vom 12.05.2003 an das VG Wiesbaden). Da die Klägerin über keine weiteren Einnahmen verfügt, stehen ihr also zur Deckung ihres monatlichen Lebensbedarfs in Armenien etwa 10 Dollar zur Verfügung. Bereits im Jahre 1998 war jedoch für die Finanzierung des zur Behandlung eines starken Bluthochdrucks erforderlichen Medikamentenbedarfs ein Mindestbetrag von 40,40 Dollar pro Monat anzunehmen (vgl. Hayastan-Fonds, Gutachten vom 12.04.1998 für das VG Bremen).

Es kann schließlich auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Finanzierung des Medikamentenbedarfs der Klägerin in Armenien auf der Grundlage des Gesetzes zur kostenlosen medizinischen Versorgung im staatlichen Auftrag und die dazu ergangenen Ausführungsbestimmungen gesichert ist (vgl. Deutsche Botschaft in Eriwan, Auskunft vom 03.03.2003 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern). Denn weder gehört die Klägerin zu den Bevölkerungsgruppen, die in der Liste der zur Inanspruchnahme der vom armenischen Staat abgesicherten kostenlosen medizinischen Betreuung Berechtigten verzeichnet sind, noch gehört Hypertonie im Gegensatz zur Hypertoniekrise zu den Krankheiten, für die die vom Staat abgesicherte kostenlose Krankenhausbetreuung und medizinische Hilfeleistung bei Personen ab 15 Jahren vorgesehen ist. Schließlich ist Hypertonie auch nicht in dem Verzeichnis der Krankheiten für den kostenlosen Erhalt von Arzneimitteln über ambulant-poliklinische Gesundheitseinrichtungen enthalten. Der laufende Medikamentenbedarf der Klägerin wird daher in Armenien nicht aus öffentlichen Mitteln finanziert. Da die Klägerin - wie dargelegt - diese Mittel auch nicht aus eigenen Kräften aufbringen kann, ist davon auszugehen, dass ihr die in Armenien generell mögliche Behandlung des Bluthochdrucks individuell aus finanziellen Gründen nicht zur Verfügung steht.

Die Situation der Klägerin unterscheidet sich allerdings insoweit nicht von der Lage des größten Teils jener 70 % der Bevölkerung über 50 Jahren, die in Armenien unter Bluthochdruck leiden. Denn soweit diese Personen nicht ausnahmsweise in den Genuss caritativer Projekte gelangt sind, müssen auch sie ihre Medikamente von den privaten Apotheken erwerben und sind namentlich als Rentner, die dies nicht finanzieren können, Teil einer in Armenien besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe - (vgl. Hayastan-Fonds, Gutachten vom 12.04.1998 an das VG Bremen). Mitglied dieser Bevölkerungsgruppe ist auch die Klägerin.

Im Hinblick auf die besonders hohen Werte, die der Bluthochdruck der Klägerin unbehandelt erreicht, bejaht jedoch das erkennende Gericht - wenn auch nicht ohne Bedenken - für den hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) die Voraussetzungen für eine verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Die Klägerin würde sich nämlich im Falle einer Abschiebung nach Armenien erhielte sie dort nicht die erforderliche medikamentöse Behandlung in einer extremen Gefahrenlage befinden.

Nach dem amtsärztlichen Gutachten vom 25. März 2003 ist im Falle einer Nichtbehandlung der Blutdruckerkrankung der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Verschlimmerung zu befürchten.

Zwar hat das erkennende Gericht keine Zweifel, dass der Gesundheitszustand der Klägerin bei entsprechenden organisatorischen Vorbereitungen für eine Fortsetzung ihrer Behandlung im Heimatland ein dauerhaftes Abschiebungshindernis aufgrund bestehender extremer Gefahrenlage nicht darstellen muss. Die in dem Verfahren beigeladene Ausländerbehörde hat jedoch bislang die erforderlichen organisatorischen Vorbereitungen weder zugesagt noch ergriffen. Allein die Mitteilung, dass man bereit sei, zur Ausreise den Medikamentenbedarf der Klägerin für sechs Monate zu finanzieren und ihr entweder Bargeld zum Kauf der Medikamente im Heimatland ausgehändigt werden könnte, oder aber die Möglichkeit bestehe, einen entsprechenden Vorrat hier zu finanzieren, stellt keine hinreichend konkrete und sachgerechte Lösung für die Problematik der Rückführung der Klägerin dar. Was die Mitgabe von Bargeld anbetrifft, so ist vom Diebstahls- und Raubrisiko einmal abgesehen bislang nicht geklärt, ob und in welcher Höhe die devisenrechtlichen Bestimmungen der Republik Armenien die Einführung der erforderlichen Summe gestatten. Hinzu kommt die Unkalkulierbarkeit des Verhaltens der Grenzbeamten und des Flughafenpersonals in der Republik Armenien. Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 01. April 2003 (S. 5 f.) ist nämlich zu entnehmen, dass Korruption dort weit verbreitet ist und es nicht zuletzt aufgrund der geringen Gehälter der dortigen Staatsbediensteten zu entsprechendem Amtsmissbrauch kommt. Zumal die Klägerin keine armenische Volkszugehörige ist, liegt es also nicht fern, dass sie schon auf dem Flughafen des mitgegebenen Bargelds verlustig gehen könnte. Auch für den weiteren Aufenthalt in Armenien ist nicht gewährleistet, dass die Zweckbindung der mitgegebenen Mittel von Dritten namentlich auch armenischen Behörden beachtet würde. Da sie in Armenien ohne Anhang ist, könnte sich die Klägerin - zumal wenn gesundheitliche Beschwerden auftreten - gegenüber Dritten, die auf ihr Geld zugreifen wollen, kaum behaupten. Auch die von der Ausländerbehörde angedachte Lösung, der Klägerin die für sechs Monate erforderlichen Medikamente als Vorrat mitzugeben, erscheint dem erkennenden Gericht ohne weitere Vorbereitungen als nicht Erfolg versprechend. Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 01. April 2003 (S. 16) ist nämlich zu entnehmen, dass für die Einfuhr von Medikamenten nach Armenien eine Genehmigung durch das Gesundheitsministerium erforderlich ist, die nur im Einzelfall für den nachgewiesenen persönlichen Bedarf auch für nicht-registrierte Medikamente erteilt werden kann.

Schließlich erscheint dem Gericht auch die kurze Zeitspanne bedenklich, für die die Beigeladene die Kosten der medikamentösen Versorgung der Klägerin zu tragen bereit ist. Es ist nämlich zu bezweifeln, ob in lediglich sechs Monaten überhaupt die Möglichkeit besteht, dass sich für die Klägerin eine Chance ergibt, den Medikamentenbedarf etwa über caritative Organisationen unabhängig von der Unterstützung der Beigeladenen weiter zu finanzieren.