VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 04.02.2004 - 6 UE 3933/00.A - asyl.net: M5094
https://www.asyl.net/rsdb/M5094
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei; einfache exilpolitische Aktivitäten begründen noch keine Rückkehrgefährdung; einfache psychische Krankheiten sind in der Türkei behandelbar. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Sympathisanten, Haftbefehl, Folgeantrag, Neue Beweismittel, Urkunden, Urkundenfälschung, Traumatisierte Flüchtlinge, Psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Fachärztliche Stellungnahmen, Gruppenverfolgung, Örtliche Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, MED-TV, Medienberichterstattung, Überwachung im Aufnahmeland, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53; AsylVfG § 71; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

Die Kläger haben auch im Asylfolgeverfahren in dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung weder einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG noch ist festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG oder § 53 AuslG vorliegen.

Es kann auch im Asylfolgeverfahren nicht festgestellt werden, dass die Kläger im (...) ihr Heimatland als politisch Verfolgte verlassen haben bzw. dass ihnen bei einer Rückkehr in die Türkei politische Verfolgung droht.

Soweit der Kläger zu 1. zu seiner Vorverfolgungssituation neuen Vortrag gebracht hat, betrifft dieser lediglich seine individuelle Vorverfolgungssituation. Im Übrigen geht der Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass vor Mitte 1993 eine Gruppenverfolgung der Kurden in den Notstandsprovinzen der Türkei (noch) nicht stattgefunden hat. Insoweit wird auf das Urteil des Senats vom 14. Oktober 1998 (6 UE 214/98.A) - insbesondere auf die Seiten 17 bis 29 - verwiesen. Aber auch der neue Vortrag zu seiner individuellen Situation in der Türkei vor der Ausreise ist nicht geeignet, eine politische Verfolgung bzw. die Gefahr einer solchen Verfolgung darzutun. Weder der eidesstattlichen Versicherung des K. T. vom 24. April 1997 (Bl. 36 der Behördenakte) noch der Bescheinigung des A. T. vom 24. Februar 1997 (Bl. 34, 35 der Behördenakte) noch dessen Zeugenaussage in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat lässt sich entnehmen, dass dem Kläger zu 1. bei seiner Ausreise im (...) landesweit in der Türkei politische Verfolgung drohte. Die eidesstattliche Versicherung des K. T. enthält zur Situation des Klägers zu 1. im (...) keinerlei Angaben. In ihr bestätigt der K. T. lediglich, dass er im (...) beim Gemeinderatsvorsteher in Sarigümüs eine Liste eingesehen habe, auf der der Name des Klägers zu 1. gestanden habe und mit roter Farbe unterstrichen gewesen sei. Der Gemeinderatsvorsteher habe dem K. T. gegenüber bestätigt, dass der Kläger zu 1. gefährdet sei. Diesem Vortrag lässt sich für die landesweit zu betrachtende Verfolgungssituation des Klägers zu 1. im Zeitpunkt der Ausreise nichts entnehmen. Dasselbe gilt für die von dem Gemeinderatsvorsteher A. T. mit Datum vom 24. Februar 1997 ausgestellte Bescheinigung, wonach der Kläger zu 1. "gesucht" werde. Eine Aussage bezogen auf den Zeitpunkt der Flucht des Klägers zu 1. enthält diese Bescheinigung nicht. Auch den Bekundungen des Zeugen A. T. in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat kann eine politische Verfolgung des Klägers zu 1. im Sommer (...) nicht entnommen werden. Der Zeuge hat ausgesagt, dass die Behörden im Jahr (...) auf die Familie des Klägers zu 1. aufmerksam geworden und die Familie ab (...)Objekt von Durchsuchungen gewesen sei, davon habe man ihm erzählt. Selbst mit angesehen habe er, wie der Kläger zu 1. einmal von Sicherheitskräften, die mit Panzern ins Dorf gekommen seien, geschlagen und mit zur Wache genommen worden sei. Weitere Aussagen zur Zeit vor der Ausreise des Klägers zu 1. aus der Türkei konnte der Zeuge nicht machen.

Damit steht für den Senat fest, dass der Kläger zu 1. - ebenso wie ein Großteil der Bewohner in den Notstandsgebieten - allenfalls in den Blickpunkt der örtlichen Sicherheitskräfte geraten ist. Dies führt jedoch nicht dazu anzunehmen, die Kläger hätten ihr Land aus Furcht vor politischer Verfolgung verlassen müssen. Asylrecht genießt nämlich grundsätzlich nur, wer sich landesweit in einer ausweglosen Lage befindet (BVerfG, 10.07.1989 - 2 BvR 502/896 u.a. - BVerfGE 80, 315). Die Kläger waren jedoch keinen landesweit reichenden, auf sie persönlich gezielten Maßnahmen ausgesetzt. Auch der Aussage des vom Senat vernommenen Zeugen A. T. kann ein über das örtliche Interesse hinausgehendes landesweites Interesse an der Person des Klägers zu 1. zur Zeit dessen Ausreise nicht entnommen werden. Soweit der Zeuge davon berichtet hat, dass nach dem Kläger zu 1. gesucht wurde, fand diese Suche lange nach der Ausreise statt und war auf die örtliche Ebene beschränkt.

Schließlich lässt sich auch dem vom Kläger zu 1. vorgelegten Schreiben der Generalkommandantur vom 2. November 2000 (Bl. 136 d. GA) eine landesweite Verfolgung des Klägers zu 1. im Zeitpunkt seiner Ausreise nicht entnehmen. Zwar wird in dem Schreiben ausgeführt, dass nach dem Kläger zu 1. "seitens unserer Wache seit 27. März 1992 gefahndet (wird)". Insoweit bezieht sich das Dokument auch auf den Zeitpunkt der Ausreise des Klägers zu 1. Der Senat ist jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei dem Schreiben nicht um ein echtes Dokument handelt.

Der Senat geht nach alledem davon aus, dass die Kläger aus individuellen Gründen keine (landesweite) politische Verfolgung erlitten haben und dass ihnen eine solche vor der Ausreise auch nicht unmittelbar bevorstand.

Soweit die Kläger sich auf eine im Verhältnis zum Ausreisezeitpunkt veränderte Situation der Kurden in den Ostgebieten berufen, wonach nunmehr von einer Gruppenverfolgung von Kurden auszugehen sei, vermag dies ihrem Folgeantrag nicht zum Erfolg zu verhelfen. Dabei ist zwar zu berücksichtigen, dass nach den Feststellungen des erkennenden Senats Kurden in den Notstandsprovinzen der Türkei seit Mitte des Jahres 1993 einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sind, ihnen aber generell sowohl unter Sicherheitsaspekten als auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht, die sie auch bei einer erzwungenen Rückkehr in die Türkei ohne Gefahr politischer Verfolgung erreichen können (Hess. VGH, 14.10.1998 - 6 UE 214/98.A -).

Die Kläger müssen aber auch nicht wegen der exilpolitischen Betätigung des Klägers zu 1. bei einer erzwungenen Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung rechnen.

Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass untergeordnete politische Betätigungen in Deutschland nicht zu Ermittlungen und Verfolgungsmaßnahmen in der Türkei führen. Eine politische Verfolgung auf Grund exilpolitischer Aktivitäten in Deutschland droht demgemäß erst dann, wenn diese Betätigung für die kurdische Sache in hervorgehobener Weise erfolgt und den türkischen Sicherheitskräften bekannt geworden ist. Dies kommt regelmäßig erst dann in Betracht, wenn der Aktivist als exponiertes Mitglied einer staatsfeindlichen Gruppe innerhalb oder außerhalb dieser Gruppe einen Bekanntheitsgrad erlangt, der die Aufmerksamkeit eines möglichen Spitzels innerhalb der Gruppe oder von Mitarbeitern des türkischen Geheimdienstes außerhalb der Gruppe erregt. Es muss sich also bei ihm um einen exponierten Regimegegner handeln.

Die von dem Kläger zu 1. im Asylfolgeverfahren vorgetragenen exilpolitischen Betätigungen sind nicht geeignet, den Kläger zu 1. als exponierten Regimegegner erscheinen zu lassen. Was den Auftritt des Klägers zu 1. bei (...) betrifft, so ist bereits dem klägerischen Vortrag selbst nicht zu entnehmen, inwieweit der Kläger zu 1. dadurch sich als exponierter Regimegegner gezeigt haben könnte. Der Kläger zu 1. hat auf ausdrückliche Nachfrage vor dem Bundesamt dazu erklärt, es sei um ein Festival gegangen und er sei bei der Diskussionsveranstaltung deutlich zu sehen gewesen. Auf die Frage, ob er etwas besonderes gesagt oder getan habe, hat der Kläger zu 1. mit "nein" geantwortet. Auch wenn türkische Stellen die Auslandsaktivitäten oppositioneller Organisationen besonders beobachten (Kaya an VG Frankfurt/Oder vom 28.02.2000) und dabei auch die türkische Presse, Rundfunk- und Fernsehsendungen kontrollieren, um Informationen zu sammeln (Kaya an Rechtsanwalt Brühl vom 18.04.1997), so ist nicht davon auszugehen, dass die türkischen Geheimdienste oder sonstige Stellen ein besonderes Interesse an der Person des Klägers auf Grund dieser Sendung haben könnten. Auch den türkischen Behörden ist nämlich bekannt, dass Asylsuchende im Ausland oftmals exilpolitische Aktivitäten entwickeln, um sich ein Bleiberecht zu verschaffen. Der Kläger zu 1. ist in dieser Sendung bereits nach seinem eigenen Vortrag nicht besonders durch bestimmte Redebeiträge oder ähnliches in Erscheinung getreten; es ist auch nicht dargetan, dass der Fernsehsendung insgesamt eine besondere politische Bedeutung zukam.

Schließlich kommt auch dem Umstand, dass der Kläger zu 1. in der (...) vom (...) auf einem Foto abgebildet ist, keine eine Rückkehrgefährdung begründende Bedeutung zu. Das Foto zeigt den Kläger zu 1. inmitten einer großen Menge von Teilnehmern einer Newroz-Veranstaltung in Siegen. Es ist schon zweifelhaft, dass der Kläger zu 1., der namentlich - soweit ersichtlich - nicht erwähnt wird, überhaupt für türkische Behörden identifizierbar ist.

Den Klägern steht schließlich ein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG nicht zu. In dem Vortrag des Klägers zu 1., er leide nach der psychologischen Stellungnahme des (...) an einer posttraumatischen Belastungsstörung, kann weder ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK noch nach § 53 Abs. 6 AuslG gesehen werden.

Die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatland verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, kann ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG darstellen. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Zwar ist es nach Auskunft des Auswärtigen Amtes für bestimmte betroffene Gruppen psychisch kranker Menschen in der Türkei fast völlig aussichtslos, adäquate Behandlungsmethoden und Verfahren in Anspruch nehmen zu können (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22.06.2000, Anlage, bestätigt durch den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2002). Dies betrifft die Gruppe der schwerst Traumatisierten wie vergewaltigte Frauen oder Menschen mit Angsttraumata nach Misshandlungen. Denn Dauereinrichtungen für psychisch kranke Erwachsene sind nicht vorhanden, weiterführende Therapien können im Allgemeinen nicht angeboten werden. Es ist vorliegend jedoch nicht davon auszugehen, dass die bei dem Kläger zu 1. diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung bei Abbruch oder Verschlechterung der therapeutischen Behandlung sich dergestalt verschlimmern würde, dass für den Kläger zu 1. dadurch eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben bestünde. Nach der dem Gericht vorgelegten psychologischen Stellungnahme des Evangelischen Regionalverbandes vom 22. Oktober 2001 zählt der Kläger zu 1. nicht zu jener Gruppe schwerst Traumatisierter, für die auf Grund der schlechten Versorgungslage im Hinblick auf psychiatrische Behandlung in der Türkei eine Rückführung dorthin zu einer Gefahr i. S. d. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG führen würde. Dies ergibt sich zum einen bereits daraus, dass der Kläger zu 1. zwar nach der Stellungnahme unter den Symptomen einer Belastungsstörung leidet, dies jedoch offenbar kein gravierendes Ausmaß angenommen hat, da der Kläger zu 1. sich erst etliche Zeit nach Auftreten der Symptome in ärztliche Behandlung begeben hat und zuvor die von ihm angestrengten Gerichtsverfahren stets mit der ihm drohenden Gefahr politischer Verfolgung in der Türkei begründet hat. Auch gelangt der Senat zu dieser Auffassung auf Grund des Wortlauts des Gutachtens. Dahingestellt bleiben soll in diesem Zusammenhang, dass die dort getroffene Diagnose im Wesentlichen auf den Schilderungen des Klägers zu 1. über Vorkommnisse in seinem Heimatland beruht, im vorangegangenen Asylverfahren jedoch bereits rechtskräftig festgestellt wurde, dass der Kläger zu 1. sein Heimatland unverfolgt verlassen hat und sich auch im vorliegenden Verfahren kein Vortrag ergeben hat, der eine politische Vorverfolgung des Klägers zu 1. begründet. Auch wenn in dem Gutachten ausgeführt wird, dass der Kläger zu 1. noch längere Zeit Unterstützung und professionelle Hilfe brauchen werde, so ist nichts dazu gesagt, dass ihm ohne therapeutische Behandlung eine Gefahr für Leib oder Leben drohte. Der Kläger zu 1. gehört daher nicht zu dem Kreis schwerst Traumatisierter und muss bei einer Rückkehr in die Türkei auf die dortigen Behandlungsmöglichkeiten, auch wenn diese nicht den Möglichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland entsprechen, verwiesen werden. Auch wenn nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes eine weiterführende Therapie psychischer Erkrankungen in der Türkei nur in geringem Umfang geleistet werden kann, so ergibt sich daraus doch, dass die rein medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen als gesichert gelten muss.