OVG Berlin

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Zitieren als:
OVG Berlin, Urteil vom 23.10.2003 - 6 B 18.03 - asyl.net: M5103
https://www.asyl.net/rsdb/M5103
Leitsatz:

Keine staatliche Gruppenverfolgung für Kurden in der Türkei. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Haft, Misshandlungen, Schikanen im Wehrdienst, Verfolgungszusammenhang, Touristenvisum, Interne Fluchtalternative, Nachfluchtgründe, objektive Nachfluchtgründe, Gruppenverfolgung, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Antragstellung als Asylgrund, Regionale Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte
Normen: AsylVfG § 33 Abs. 2; GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Der Kläger hat seine Heimat nicht aus Furcht vor Verfolgung verlassen. Dies ergibt sich aus seinen eigenen Angaben bei der ersten Befragung zu seinem Asylantrag und bei der Anhörung vor dem Bundesamt.

Die behaupteten Verhaftungen und Misshandlungen in der Zeit von (..) bis zu Beginn des Wehrdienstes, wie auch die angegebenen Schikanen während des Wehrdienstes - ihre Asylerheblichkeit einmal unterstellt -, haben den Kläger nicht veranlasst, die Türkei zu verlassen. Er hat sich vielmehr - stellt man auf das erste genannte Ereignis ab - noch über zehn Jahre, stellt man auf das Ende des Wehrdienstes im (..) ab, noch rund drei Jahre bis zu seiner Ausreise in der Türkei aufgehalten. Auch bezüglich der vom Kläger im Zusammenhang mit der beabsichtigten Parteigründung (..) behaupteten Maßnahmen der Sicherheitskräfte fehlt es an einem Kausalzusammenhang mit der Ausreise. Der Kläger hat bei seiner ersten Befragung Wert auf die Feststellung gelegt, als Tourist gekommen zu sein und sich erst in Berlin zu einer Asylantragstellung entschlossen zu haben. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hat er ebenfalls ausgeführt, dass er sich erst in Deutschland endgültig entschieden habe, einen Asylantrag zu stellen. Damit war aber nicht erlittene oder befürchtete politische Verfolgung Motiv der Ausreise des Klägers. Hierfür sprechen auch die äußeren Umstände der Asylantragstellung. Der Kläger hat den Asylantrag nicht unmittelbar nach seiner Einreise, sondern erst unmittelbar vor dem Ablauf seines Besuchervisums und damit seines legalen Aufenthalts in Deutschland gestellt.

Der danach unverfolgt ausgereiste Kläger kann sich nicht auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen. Es liegen weder subjektive noch objektive - asylrechtlich oder im Rahmen des § 51 Abs. 1 AuslG relevante - Nachfluchtgründe vor.

Als objektiver Nachfluchtgrund kann eine staatliche Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei nicht festgestellt werden.

Für die Kurden in der Türkei scheidet eine landesweite oder regionale Gruppenverfolgung im Sinne der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 9. September 1997 - BVerwG 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204; Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 171.95 -, BVerwGE 101, 134 ff.) von vornherein aus. Türkische Staatsangehörige wurden und werden gegenwärtig und auf absehbare Zukunft allein wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit nicht verfolgt oder staatlichen Repressionen unterworfen. Insbesondere im Westen der Türkei sind zahlreiche Kurden in die türkische Gesellschaft seit Jahrzehnten vollständig integriert oder haben sich assimiliert.

Eine denkbare Gruppenverfolgung kurdischer Volkszugehöriger wegen eines generellen, an die Volkszugehörigkeit anknüpfenden Separatismusverdachts ist vielmehr auf die traditionellen Siedlungsräume der Kurden in Ost- und Südostanatolien beschränkt. Dies entspricht der - soweit ersichtlich - einhelligen Rechtsprechung aller Oberverwaltungsgerichte (vgl. nur aus der neuesten Zeit: OVG Münster, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A - S. 21; OVG Weimar, Urteil vom 25. November 1999 - 3 KO 165/96 - S. 6, juris; VGH Kassel, Urteil vom 5. August 2002 - 12 UE 2982/00.A -, S. 15, juris; VGH Mannheim, Urteil vom 22. Juli 1999 - A 12 1891/97 -; Urteil vom 7. Mai 2002 - A 12 S 196/00 -, S. 8; OVG Saarlouis, Urteil vom 29. März 2000 - 9 R 3/99 -; OVG Bremen, Urteil vom 17. März 1999 - OVG 2 BA 118/94 -).

Nach dem Ende der militärischen Auseinandersetzung mit der PKK, die am 1. September 1998 einseitig einen Waffenstillstand verkündet und sich weitgehend aus der Türkei zurückgezogen hat, hat sich die Lage in den kurdischen Gebieten entspannt. Sichtbares Zeichen hierfür ist die Aufhebung des Notstandes in den letzten beiden verbliebenen Provinzen Diyarbakir und Sirnak zum 30. November 2002 (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8. April 2003 an OVG Münster, A XI 4). Auch die Zwangsmaßnahmen gegenüber der Dorfbevölkerung haben mit der Einstellung des bewaffneten Guerillakampfes durch die PKK an Häufigkeit stark abgenommen.

Auch die rechtlichen Bedingungen haben sich in den letzten Jahren in erheblichem Umfang, zum Teil grundlegend geändert. Im Hinblick auf die von der Europäischen Union als Voraussetzung für einen Beitritt der Türkei aufgestellte Prioritätenliste hat das türkische Parlament im Oktober 2001 eine umfangreiche Verfassungsrevision vorgenommen. Am 3. August 2002 folgte die parlamentarische Verabschiedung des bislang weitreichendsten Reformpakets, das zentrale Forderungen der EU-Beitrittspartnerschaft wie die Abschaffung der Todesstrafe und die Zulassung kurdischsprachiger Sendungen in Radio und Fernsehen und kurdischsprachiger Privatschulen rechtlich umsetzt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 9. Oktober 2002, S. 7, C I 34; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8. April 2003 an OVG Münster, A XI 4 zur bisherigen Umsetzung). Schließlich hat das türkische Parlament im Juli 2003 eine Teilamnestie für ehemalige Mitglieder der PKK beschlossen (FAZ vom 31. Juli 2003 S. 5; Text abgedruckt: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12. August 2003, C I 35) und mit der Beschneidung des Einflusses des Militärs weitere Schritte zur Erfüllung der Kriterien der Aufnahme in die EU gemacht (FAZ vom 1. August 2003). Hinsichtlich der allgemeinen Menschenrechtslage sind ebenfalls Anstrengungen der Regierung erkennbar, eine Verbesserung der Situation durch Durchsetzung der bereits bestehenden rechtlichen Standards zu erreichen.

Der Senat braucht nicht zu klären, ob im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers oder zu einem späteren Zeitpunkt die geschilderten Handlungen der Sicherheitskräfte und die mitgeteilten Begleitumstände nach ihrem inhaltlichen Charakter und ihrer äußerlich erkennbaren Gerichtetheit Verfolgungsmaßnahmen darstellten, welche maßgeblich auf dem pauschalen Verdacht der Unterstützung separatistischer und terroristischer Aktivitäten der PKK oder gar einer Beteiligung hieran beruhten (vgl. zur Notwendigkeit solcher Feststellungen, BVerwG, Urteil vom 30. April 1996 - BVerwG 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123). Jedenfalls ist gegenwärtig nichts dafür erkennbar, dass die ganze Bevölkerungsgruppe der Kurden im Südosten und Osten der Türkei, insbesondere in den ehemaligen Notstandsgebieten, pauschal des Separatismus verdächtigt wird und sie - objektiv gesehen - nur deswegen und ohne Feststellung einer konkreten Beteiligung an separatistischen Aktivitäten bekämpft wird.

Unabhängig von der Frage der Gerichtetheit der Maßnahmen der staatlichen Sicherheitskräfte fehlte es in der Vergangenheit und fehlt es erst recht im gegenwärtigen Zeitpunkt an der erforderlichen Vefolgungsdichte.

Der Kläger muss bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an individuelle Merkmale mit politischer Verfolgung rechnen. Zurückkehrenden kurdischen Asylbewerbern drohen grundsätzlich, sofern in ihrer Person keine Besonderheiten vorliegen, bei der Einreise in die Türkei weder an der Grenze noch auf dem Flughafen asylrelevante staatliche Verfolgungsmaßnahmen. Insbesondere zieht die Asylantragstellung als solche keine politische Verfolgung nach sich (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12. August 2003, S. 36; Urteil des Senats vom 25. September 2003 - OVG 6 B 8.03 - UA S. 18 ff.).