VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.02.2004 - 11 S 1131/03 - asyl.net: M5113
https://www.asyl.net/rsdb/M5113
Leitsatz:

Ein rechtliches Abschiebungshindernis kann sich daraus ergeben, dass ein betreuungsbedürftiges - deutsches oder sich in Deutschland rechtmäßig aufhaltendes - Familienmitglied eines abzuschiebenden Ausländers dringend auf dessen Lebenshilfe angewiesen ist, die sich nur im Bundesgebiet erbringen lässt. Einem solchen Familienmitglied steht aber kein uneingeschränktes "absolutes" Wahlrecht zwischen mehreren betreuungsfähigen nahen erwachsenen Angehörigen zu. Vielmehr ist - ebenso wie bei deutschverheirateten Ausländern - das öffentliche Interesse an der Ausreise eines ausländischen betreuungsfähigen Familienmitglieds angemessen zur Geltung zu bringen und mit dem Auswahlinteresse des betreuungsbedürftigen Angehörigen und dem Verbleibeinteresse des "ausgewählten" ausländischen Familienmitglieds abzuwägen. Im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK ist in erster Linie entscheidend, dass der betreuungsbedürftigen Person überhaupt eine familiäre Betreuung ermöglicht wird.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Türken, Ausweisung, Duldung, Schutz von Ehe und Familie, Familienangehörige, Mutter, Lebenshilfe, Betreuung, Beistandsgemeinschaft, Psychische Erkrankung, Suizidgefahr
Normen: GG Art. 6 Abs. 1; AuslG § 55 Abs. 2; EMRK Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

Nach der hier vorzunehmenden summarischen Prüfung steht einer Abschiebung des Antragstellers derzeit § 55 Abs. 2 AuslG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK entgegen. Allerdings sieht der Senat im Hinblick auf die gegenwärtigen Verhältnisse nach Lage der Akten keinen Anlass, die Abschiebung des Antragsteller ohne zeitliche Begrenzung auszusetzen. Vielmehr reicht die im Tenor festgelegte Frist aus, um den erforderlichen einstweiligen Rechtsschutz des Antragstellers

sicherzustellen. Der Antragsteller ist im Hinblick auf seine vollziehbare Ausreisepflicht und die ausgesprochene - gemäß § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG wirksame - Ausweisung innerhalb dieses Zeitraums verpflichtet, alles zu tun, um seine Mutter auf seine notwendige und bevorstehende Ausreise vorzubereiten und durch geeignete Maßnahmen Vorsorge dafür zu treffen, dass diese in der erforderlichen Form psychisch - z.B. durch andere hier in Deutschland lebende Familienmitglieder - betreut werden kann.

Nach der hier erforderlichen und hinreichenden, summarischen Prüfung kann gegenwärtig vom Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ausgegangen werden. Denn nach dem Vortrag des Antragstellers ist es jedenfalls derzeit hinreichend wahrscheinlich, dass seiner Abschiebung ein rechtliches Abschiebungshindernis gemäß Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK entgegensteht. Der Antragsteller trägt hierzu vor, dass seine Mutter dringend auf seine Hilfe angewiesen sei und im Falle seiner Abschiebung ihr Leben gefährdet sei. Dem ist im Ergebnis zu folgen.

Aufgrund der summarischen Prüfung und der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen zum Gesundheitszustand der Mutter des Antragstellers ist zumindest vorübergehend davon auszugehen, dass eine Trennung des Antragstellers von der Mutter nach § 55 Abs. 2 AuslG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht möglich und zumutbar ist.

Nach dem Vortrag des Antragstellers und den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen ist wegen der darin enthaltenen widersprüchlichen Angaben zwar äußerst fraglich, ob die Mutter des Antragstellers tatsächlich auf Hilfe bei den Verrichtungen des täglichen Lebens angewiesen ist.

Ungeachtet dessen ist allen Stellungnahmen jedoch die Kernaussage zu entnehmen, dass die Mutter psychisch labil wirkt bzw. ist und nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich eine Trennung vom Antragsteller für diese suizidgefährdend auswirkt. Nach der Auskunft des Leiters der Gemeinschaftsunterkunft in seiner e-mail vom 18.9.2002 hat die Mutter eine "panische Angst" vor einer Trennung von ihrem jüngsten Sohn, dem Antragsteller. Dies ergibt sich auch aus der ärztlichen Stellungnahme von (...). Danach hatte die Mutter Angst vor einer Rückkehr in die Türkei und könne aufgrund ihrer Traumatisierung diese Gefahr für ihren Sohn nicht anders einschätzen als für sich selbst. Eine Abschiebung des Antragstellers führe bei ihr zu einer Retraumatisierung; Indiz hierfür sei insbesondere der Selbsttötungsversuch im (...), der auf die Nachricht der zwangsweisen Rückführung des Antragstellers erfolgt sei. Zwar ist der Beweiswert dieser Stellungnahme sehr eingeschränkt, da wie bereits oben aufgezeigt, der von der Mutter des Antragstellers vorgetragene Sachverhalt der ärztlichen Beurteilung ungeprüft zugrundegelegt worden sein dürfte und zudem bei der Mutter das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung ohne weitere Prüfung bzw. Angabe der Quelle vorausgesetzt wurde (zu den insofern zu stellenden Anforderungen vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.7.2003 - 11 S 2622/02 -, VBIBW 2003, 482 = InfAuslR 2003, 422). Die Stellungnahme geht auch fälschlicherweise davon aus, dass der Mutter wegen belastenden traumatischen Gewalterlebnissen im Heimatland ein Abschiebehindernis nach § 53 Abs. 4 AusIG zugesprochen worden sei (vgl. im Gegensatz hierzu VG Freiburg, Urteil vom 17.1.2001 - A 6 K 12269/97 -). Gleichwohl kann die getroffene Feststellung, dass die Abschiebung des Antragstellers zu einer lebensbedrohlichen Lage der Mutter führen kann, im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht von der Hand gewiesen werden. Denn auch das Gesundheitsamt des Landratsamts L. hat in seiner Stellungnahme vom 13.9.2002 bestätigt, dass in Belastungssituationen, z.B. bei einer Abschiebung des Antragstellers, mit einer Einschränkung der Steuerungsfähigkeit, möglicherweise mit Suizidalität der Mutter zu rechnen sei. Aufgrund dieser Erkenntnislage und des Umstands, dass die Mutter - nach Ablehnung der Anträge des Antragstellers im März 2003 auf Erteilung einer weiteren Duldung - am 1.4.2003 erneut erfolglos versucht hat, sich das Leben zu nehmen, ist vorläufig davon auszugehen, dass die Mutter derzeit auf die Anwesenheit des Antragstellers als "psychische Stütze" angewiesen ist. Auch eine solche Art der psychischen Lebenshilfe kann - wie hier - bei gravierenden, lebens- und gesundheitsbedrohenden Situationen für die Annahme einer Beistandsgemeinschaft ausreichend sein (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 5.7.1999 - 13 S 1101/99 -, InfAuslR 1999, 414 = VBlBW 1999, 468). Die sich nach den Stellungnahmen abzeichnende erhebliche Beeinträchtigung des Wohlbefindens der Mutter durch eine räumliche Trennung vom Antragsteller infolge einer Abschiebung in sein Heimatland geht nämlich über die im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG gegebenenfalls noch hinnehmbaren allgemeinen negativen psychischen Reaktionen eines Familienangehörigen hinaus (vgl. hierzu OVG Weimar, Beschluss vom 15.11.2002 - 3 EQ 438/02 -, InfAuslR 2003, 144). Im Hinblick auf die Gefährdung des hohen Schutzguts des Lebens der Mutter ist es gerechtfertigt, demgegenüber die im öffentlichen Interesse stehende Abschiebung des

Antragstellers vorerst zurückzustellen.

Zur Gewährung des deswegen erforderlichen effektiven einstweiligen Rechtsschutzes reicht nach gegenwärtiger Einschätzung aber eine Frist von sechs Monaten aus. Zu bedenken ist, dass die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nur Grundlage einer vorläufigen Einschätzung sein können, weil sie bereits im (...) erstellt worden sind und damit zum Zeitpunkt dieser Entscheidung schon weit über ein Jahr zurückliegen. Darüber hinaus enthalten die Bescheinigungen keine genauen Angaben zum Krankheitsbild und zu Art und Umfang einer Behandlungsbedürftigkeit der Mutter. Zudem ist ungeklärt, ob der Antragsteller eine psychische Unterstützung seiner Mutter über einen längeren Zeitraum alleine gewährleisten kann. In diesem Zusammenhang bleibt insbesondere offen, ob letztlich die Anwesenheit des Antragstellers in Deutschland allein ausschlaggebend und ausreichend ist, um eine Selbstgefährdung der Mutter zu verhindern.

Des Weiteren darf nach Vorstehendem nicht außer Betracht bleiben, dass außer dem Antragsteller weitere nahe Familienangehörige der Mutter in Deutschland leben. Davon dass diese Angehörigen von vornherein ungeeignet wären, die Mutter psychisch zu stabilisieren, kann nach Lage der Dinge nicht ausgegangen werden. Die Mutter muss sich daher darauf verweisen lassen, sich an diese Angehörigen zu wenden, soweit dies möglich und zumutbar ist. Ein "absolutes" Wahlrecht, sich gerade des Antragstellers als Beistands zu bedienen, steht ihr nicht ohne weiteres zu. Dies gilt vor allem im Hinblick darauf, dass der Antragsteller nicht nur aufgrund der rechtskräftigen Ablehnung seines Asylgesuchs vollziehbar ausreisepflichtig ist, sondern auch wegen Straftaten wirksam ausgewiesen wurde und daher auch aus Gründen der Gefahrenabwehr verpflichtet ist, Deutschland zu verlassen. Die Angaben der Mutter des Antragstellers bei ihrem Anamnesegespräch im Rahmen der Untersuchung bei Refugio Villingen-Schwenningen führen nicht dazu, dass eine Betreuung der Mutter nicht auch durch andere Familienangehörige in Betracht käme.