VG Potsdam

Merkliste
Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 15.07.2003 - 3 K 3106/97.A - asyl.net: M5146
https://www.asyl.net/rsdb/M5146
Leitsatz:

Keine politische Verfolgung in Afghanistan kann, da in Afghanistan keine staatliche Macht oder quasi-staatliche Herrschaftsstruktur besteht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, Kommunisten, Nadjibullah-Anhänger, Leibwächter, Militärangehörige, DVPA, Mitglieder, Politische Entwicklung, Machtwechsel, Übergangsregierung, Gebietsgewalt, Quasi-staatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Mudjaheddin, Blutrache, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Sicherheitslage, Versorgungslage, Extreme Gefahrenlage, Duldung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Eine verfassungswidrige Schutzlücke ist nicht gegeben, wenn - wie hier - anderweitiger Abschiebungsschutz durch Erlasse oder Duldung besteht.

Die politische Verfolgung der Kläger in Afghanistan kann nicht festgestellt werden, da in Afghanistan keine staatliche Macht oder quasi-staatliche Herrschaftsstruktur besteht.

Der Kläger zu 1. beruft sich auf eine Verfolgung durch die Mudjaheddin und die Taleban. Die in der früheren Rechtsprechung der Kammer angenommene quasi-staatliche Herrschaft der Taleban ist aber durch die Angriffe der USA Ende 2001 beendet worden.

Die Kläger berufen sich weiterhin auf eine andauernde Verfolgung durch Mudjaheddin, die in der derzeitigen Interimsregierung wichtige Posten besetzt hätten und wieder Macht ausüben würden. Aber auch die seit Dezember 2001 eingesetzte und durch die Loya Jirga bestätigte Übergangsregierung unter Hamid Karzai übt derzeit keine für die Feststellung gem. § 51 Abs. 1 AuslG erforderliche staatliche Macht in Afghanistan aus. Voraussetzung dafür wäre eine effektive Gebietsgewalt im Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit (BVerfGE 80, 315, 340).

Trotz der Bildung der Interimsregierung, der Konstituierung der Loya Jirga im Juni 2002 und des Einsatzes der ISAF-Schutztruppen kann nicht von einer effektiven Gebietsgewalt der Regierung unter Hamid Karzai zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) ausgegangen werden. Dies ergibt sich aus der Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel.

Die Interimsregierung konnte in Afghanistan u.a. wegen fehlender Ausstattung mit sächlichen Mitteln und Personal noch keine Verwaltungsstrukturen aufbauen. Ein funktionierendes Justizsystem ist nicht ansatzweise vorhanden, es besteht keine Einigkeit über die Gültigkeit und Anwendbarkeit von Rechtssätzen. Ebenso ist die Regierung nicht in der Lage, lokale Machthaber wegen Übergriffen außerhalb Kabuls strafrechtlich zu verfolgen. Die Polizei befindet sich noch in der Anfangsphase des Aufbaus (vgl. Lagebericht AA v. 02.12.2002, S. 6; Update der SFH vom 03.03.2003, S. 8). Der Einflussbereich der Regierung von Karzai ist auf die Stadt Kabul beschränkt und reicht dort nicht einmal bis in alle Randregionen und Vororte (vgl. Gutachten des Dr. Danesch vom 18.02.2003 (S.6) und 21.02.2003 (S. 5).

In den Provinzen haben die früheren Kriegsherren (Warlords) das nach der Vertreibung der Taleban entstandene Machtvakuum genutzt. Sie haben teilweise der Regierung ihre Unterstützung und Loyalität zugesagt, aber setzen in ihren Gebieten nicht deren Interessen durch (Dr. Danesch vom 18.02.2003, S. 8; Country report by the Netherlands aus August 2003).

Die mit Hilfe der internationalen Schutztruppen allein im Stadtgebiet von Kabul grundsätzlich gewährleistete Durchsetzung der Regierungsinteressen genügt in territorialer Hinsicht nicht den Anforderungen an eine staatliche Herrschaftsmacht da das zentrale Merkmal von Staaten - sowohl nach den Kriterien der allgemeinen Staatslehre als auch nach denen des allgemeinen Völkerrechts - eine organisierte Herrschaftsmacht mit einem prinzipiellen Gewaltmonopol ist, die auf einem begrenzten Territorium über eine sich als Schicksalsgemeinschaft verstehende Bevölkerung effektiv und dauerhaft ausgeübt wird (Urteil BVerwG v. 06.08.1996, Az: 9 C 172/95, zitiert nach Juris). Es liegen keine Erkenntnisse vor, dass der Raum Kabul als ein eigenständiger Landesteil von Afghanistan angesehen wird. Der Machtanspruch der Interimsregierung beschränkt sich auch nicht auf den Raum Kabul, sondern besteht für das gesamte Land, so dass der Einfluss auf das Stadtgebiet Kabul auch aus diesem Grund nicht zur Begründung einer effektiven staatlichen Gebietgewalt für Afghanistan genügt.

In Afghanistan existiert derzeit auch keine quasi-staatliche Gebietsgewalt, die eine politische Verfolgung im Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG zu begründen vermag.

Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG liegen ebenfalls nicht vor.

Den Klägern droht aufgrund individueller Eigenschaften oder Verhältnisse landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.

Der Kläger zu 1. hat insoweit geltend gemacht, in der Leibgarde der früheren prokommunistischen Präsidenten Karmal und Nadjibullah als (...) tätig gewesen und in Kandahar an Auseinandersetzungen mit den Mudjaheddin beteiligt gewesen zu sein; in der (...) habe er ca. 50 Personen befehligt.

Ob früheren Anhängern des kommunistischen Regimes Gefahr droht, hängt nach der Auskunftslage für Afghanistan und der Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ab vom Ausmaß der Identifizierung des Betreffenden mit der Ideologie, einem Rang oder der Position, die er im Militär, in dem Geheimdienst oder in der DVPA bekleidet hat, seinem Bildungsstand, den Bindungen innerhalb seiner Familie, weiter davon, ob er Menschenrechtsverletzungen begangen hat oder an Übergriffen auf die Zivilbevölkerung beteiligt gewesen ist, und davon, ob er und seine Taten in der Öffentlichkeit bekannt geworden sind. Wer in der Zeit von 1992 -1996 in Afghanistan unbeschadet gelebt hat, dürfte nicht gefährdet sein (AA v. 02.12.2002, UNHCR v. 23.04.2003, SFH Update vom 03.03.2003, S.13; Dr. Danesch v. 18.02.2003 und 05.08.2002; Glatzer vom 26.08.2002, Ziffer 31 Country Report by the Netherlands aus August 2002, Report on a fakt-finding mission September/Oktober 2002, S.19 ff.).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist eine Gefahr i.S.v. § 5.1 Abs. 1 AuslG für die Kläger nicht gegeben. Die kriegerischen Auseinandersetzungen, an denen der Kläger zu 1. beteiligt gewesen ist, sind nicht ausreichend, um die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch Dritte zu begründen. Dies schon deshalb nicht, weil die Kämpfe in Kandahar stattgefunden haben und nicht im Wohnort des Klägers, Kabul. Es spricht daher nichts dafür, dass der Kläger zu 1. und seine Familie heute noch aufgrund der Teilnahme an Kampfhandlungen durch eine Gruppierung der Mudjaheddin in Kabul Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt sein werden.

Für die Begründung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung der Kläger durch Anhänger der Taleban liegen ebenfalls keine hinreichenden Anhaltspunkte vor. Der Kläger zu 1. gibt selbst an, keinen Kontakt zu Taleban gehabt zu haben. Er hat zudem keine Tatsachen vorgetragen, die darauf schließen ließen, dass er in der Öffentlichkeit als Verfechter des kommunistischen Regimes aufgetreten und bekannt geworden ist, so dass schon daher eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefährdung ausgeschlossen werden kann. Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Gefahr für Leib, Leben und Freiheit der Kläger spricht außerdem entscheidend, dass der Kläger zu 1. nach dem Sturz Nadjibullahs und der Auflösung der Leibgarde ein Jahr als Taxifahrer und zwei weitere Jahre als Autohändler gearbeitet hat und nach eigenen Angaben in Afghanistan seit (...) nicht mehr politisch aktiv gewesen ist.

Noch geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger zu 1. in Zukunft noch von Gegnern der damaligen kommunistischen Regierung angegriffen werden wird, zumal der Kläger zu 1. geschildert hat, dass man der Präsidentengarde gegenüber geäußert habe, man brauche sie nicht mehr (Bl. 5 der Anhörung beim Bundesamt), also die unterbliebene Festnahme und das Ausbleiben weiterer Verfolgungsmaßnahmen kein Zufall, sondern von den Mudjaheddin beabsichtigt war.

Die nach den vorliegenden Auskünften und Gutachten grundsätzlich nicht auszuschließende Blutrache gegenüber Anhängern des kommunistischen Regimes vermag im Fall des Klägers zu 1. ebenfalls keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit zu begründen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger an Übergriffen gegen bestimmte Personen, an Foltermaßnahmen oder Exekutionen oder ähnlichen Taten beteiligt war oder damit in Verbindung gebracht werden könnte.

Die Kläger haben gegenüber der Beklagten auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG in verfassungskonformer Anwendung auf Grund einer ggf. aus der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan resultierenden extremen Gefahrenlage.

Eine verfassungswidrige Schutzlücke ist nicht gegeben, wenn - wie hier - anderweitiger Abschiebungsschutz durch Erlasse oder Duldung besteht.

Die Ausländerbehörde der Stadt Dortmund hat den Klägern im Falle der Ablehnung ihres Asylbegehrens und von Abschiebungshindernissen mit Schreiben vom 10.07.2003 die Erteilung von Duldungen für zunächst 3 Monate zugesichert. Die Duldung für die Dauer von 3 Monaten vermittelt den Klägern den gleichen Abschiebungsschutz wie eine positive Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG (dazu s.o.), so dass die Kläger nicht des zusätzlichen Schutzes durch verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG bedürfen. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob aus der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul eine extreme Gefahrenlage für die Kläger erwächst.