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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 17.03.2004 - 1 C 1.03 - asyl.net: M5209
https://www.asyl.net/rsdb/M5209
Leitsatz:

Die Ausstellung von Reiseausweisen von Flüchtlingen, die sich rechtmäßig im Gebiet eines Vertragsstaates aufhalten, stellt die Regel dar und die Nichtausstellung die Ausnahme. Die Ausländerbehörde kann weitere Nachweise nur dann verlangen, wenn sich aufgrund neuer Tatsachen oder des Fehlens geeigneter Dokumente ernsthafte Zweifel an der Identität des Flüchtlings ergeben.

Schlagwörter: D (A), Iraker, Konventionsflüchtlinge, Reiseausweis, Rechtmäßiger Aufenthalt, Aufenthaltsbefugnis, Identitätszweifel, Identifikationsfunktion, Terrorismusbekämpfung
Normen: GFK Art. 28 Abs. 1 S. 1; AsylVfG § 70 Abs. 1
Auszüge:

Soweit das Berufungsurteil hinsichtlich des erstrebten Reiseausweises die klageabweisende erstinstanzliche Entscheidung bestätigt hat, verstößt es gegen Bundesrecht.

In Betracht kommt allein ein Anspruch der Klägerinnen nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl II 1953 S. 560/BGBl II 1954 S. 619).

Der Senat kann nicht abschließend selbst entscheiden, ob alle Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK vorliegen. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, sind allerdings die Klägerinnen Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention.

Soweit Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK den rechtmäßigen Aufenthalt des Flüchtlings in der Bundesrepublik Deutschland voraussetzt, bestehen im Ergebnis keine Bedenken, dass die Klägerinnen jedenfalls inzwischen - nach Erteilung der Aufenthaltsbefugnisse im Revisionsverfahren - über den hierfür erforderlichen Aufenthaltstitel verfügen. Eine Aufenthaltsbefugnis nach § 70 Abs. 1 AsylVfG begründet einen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne von Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK (vgl. VGH München, InfAuslR 2004; 109; Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, 1991, S. 99; UNHCR, Stellungnahme zu Art. 28 GFK, August 2003, ZAR 2003, 330 332>; vgl. ferner Nr. 51.0.3.3 AuslG-VwV vom 28. Juni 2000, GMBl 2000, 618).

Der auf Ausstellung eines Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK gerichtete Anspruch eines Konventionsflüchtlings, der sich rechtmäßig im Gebiet eines vertragschließenden Staates aufhält, kann Einschränkungen unterliegen, wenn ernsthafte Zweifel an seiner Identität bestehen. Maßgeblich für die Zulässigkeit derartiger Einschränkungen ist die Identifikationsfunktion des Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK.

Bestehen an der Identität des Flüchtlings ernsthafte Zweifel, so kann im Falle der Ausstellung eines Reiseausweises dessen nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK vorausgesetzte Identifikationsfunktion beeinträchtigt sein.

Der nach dieser Bestimmung auszustellende Reiseausweis hat - untrennbar verbunden mit seinem primären Zweck, dem Flüchtling grenzüberschreitende Reisen zu ermöglichen - zugleich bestimmte Ordnungs- und Kontrollfunktionen. Diese können gefährdet sein, wenn Flüchtlinge trotz ernsthafter Zweifel an ihrer Identität über einen Reiseausweis (ohne geeignete Hinweise; vgl. unten e) verfügen. Im internationalen Reiseverkehr erfüllt dieser als passersetzendes Papier u.a. den Zweck, die Entscheidung dritter Staaten über die Gestattung der Einreise, Durchreise und Ausreise zu ermöglichen, etwa durch den Abgleich der im Pass enthaltenen Daten des Inhabers mit Fahndungs- oder Sperrdateien. Eine Beeinträchtigung der Identifikationsfunktion würde ein erhöhtes Risiko von Missbrauchsfällen und Straftaten bedeuten.

In diesem Zusammenhang ist, wie der Vertreter des Bundesinteresses zutreffend ausgeführt hat, auch zu berücksichtigen, dass ein internationaler Reiseausweis weitgehend ungehinderte Reiseaktivitäten ermöglicht, an denen auch Personen aus dem Umfeld des internationalen Terrorismus ein Interesse haben. Gelingt es diesen, ihre wahre Identität durch Verwendung von Reiseausweisen mit falschen Personenangaben zu verschleiern, so können sie bei ihren Reiseaktivitäten erfolgreich Personenfahndungen umgehen. Nach der Resolution des UN-Sicherheitsrats 1373 (2001) vom 28. September 2001 (in: Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrats 1. Januar 2001 bis 31. Juli 2002, Seite 316 ff. = S/RES/1373 2001>) werden alle Staaten im Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus aufgefordert, die Reisetätigkeit von Terroristen oder terroristischen Gruppen durch wirksame Grenzkontrollen und Kontrollen bei der Ausstellung von Ausweisen und Reisedokumenten sowie durch Maßnahmen zur Verhinderung von Nachahmung, Fälschung oder betrügerischem Gebrauch von Ausweisen und Reisedokumenten zu verhindern. Außerdem werden alle Staaten aufgerufen, im Einklang mit dem Völkerrecht sicherzustellen, dass der Flüchtlingsstatus nicht für terroristische Handlungen missbraucht wird.

Weder dem dargestellten Zweck noch der Entstehungsgeschichte des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK kann entnommen werden, dass der Reiseausweis ungeachtet ernsthafter Zweifel an der Identität uneingeschränkt auszustellen ist.

Die erwähnten Einschränkungen, denen der Anspruch des Konventionsflüchtlings auf Erteilung eines Reiseausweises unterliegt, finden ihre Grenzen in Wortlaut und Systematik des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK sowie seinem Sinn und Zweck.

Danach stellt die Ausstellung von Reiseausweisen an Flüchtlinge, die sich rechtmäßig im Gebiet eines Vertragstaates aufhalten, die Regel und die Nicht-Ausstellung die Ausnahme dar.

Jedenfalls folgt aus dem in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK angelegten Regel-Ausnahme-Verhältnis, dass Einschränkungen des Anspruchs auf Erteilung eines Reiseausweises nur im Falle ernsthafter Zweifel an der Identität des Flüchtlings - und nicht schon bei jedem wie auch immer gearteten Zweifel - gegeben sind. Die den Konventionsflüchtling insoweit treffenden Einschränkungen bedeuten nicht notwendig, dass ihm bei Identitätszweifeln stets der Reiseausweis zu versagen wäre. Vielmehr kommt im Ausnahmefall auch die Erteilung eines Ausweises mit einem geeigneten Hinweis in Betracht.

Im Einzelnen hat die Ausländerbehörde folgendes zu beachten: Sie ist zwar nicht befugt, die im Asylverfahren bejahte Flüchtlingseigenschaft - und damit regelmäßig etwa das Fortbestehen der Verfolgungsgefahr - selbst zu prüfen. Ergeben sich aber insbesondere aufgrund neuer Tatsachen oder des Fehlens von geeigneten Dokumenten ernsthafte Zweifel an der Identität des Flüchtlings, so kann die Ausländerbehörde hierzu weitere Nachweise verlangen (vgl. auch § 41 Abs. 1 AuslG). Dabei ist allerdings im Einzelfall sorgfältig zu prüfen, ob dies dem Flüchtling - insbesondere wegen der Verhältnisse im Verfolgerstaat - zumutbar ist. Insofern ist eine Beweisnot des Flüchtlings hinsichtlich des Nachweises seiner Identität zu berücksichtigen. Unzumutbar sind u.a. Handlungen, mit denen sich der Flüchtling dem Schutz des Verfolgerstaates unterstellen würde (vgl. auch § 72 Abs. 1 AsylVfG). Je nach Lage des Einzelfalles ist ggf. zu prüfen, ob es dem Flüchtling zumutbar ist, sich beispielsweise an dort lebende Familienangehörige, Verwandte oder Bekannte bzw. einen dortigen Rechtsanwalt zu wenden, um geeignete Nachweise zu erhalten oder ob etwa Möglichkeiten der Kommunikation fehlen oder er sich oder andere damit in Gefahr bringen würde. Unterbleibt eine zumutbare Mitwirkung des Flüchtlings oder ist sie unzureichend und lässt sich die Identität auch nicht auf andere Weise klären - wobei die Aufklärungspflicht dort ihre Grenze findet, wo das Vorbringen des Flüchtlings keinen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet -, so darf die Ausländerbehörde die Ausstellung des Reiseausweises ablehnen. Soweit der Flüchtling mitwirkt, aber gefälschte Dokumente vorlegt, begründet dies ernsthafte Zweifel an seiner Identität. Auch insoweit setzt aber die Versagung des Konventions-Reiseausweises die Zumutbarkeit der zuvor geforderten Mitwirkung voraus. Ist eine Klärung der Identität wegen Unzumutbarkeit der Mitwirkung oder trotz der Mitwirkung des Flüchtlings nicht möglich, darf der Reiseausweis nicht verweigert werden. In der im Reiseausweis enthaltenen Rubrik, aufgrund welcher Unterlagen der Ausweis ausgestellt wird, kann dann allerdings etwa der Vermerk angebracht werden, dass die Personalien auf eigenen Angaben beruhen.

Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK schließt einen solchen Vermerk nach seinem Wortlaut und Sinn und Zweck nicht aus, wenn die Identität des Konventionsflüchtlings wegen der Unzumutbarkeit seiner Mitwirkung oder trotz der Mitwirkung nicht geklärt werden kann (vgl. auch VG Frankfurt a.M, Asylmagazin 2004, 37): Der die Ausweisausstellung ermöglichende Hinweis, dass die Personalien auf eigenen Angaben beruhen, trägt der bei derartigen Fallkonstellationen bestehenden Beweisnot des Flüchtlings Rechnung und entspricht damit dem Geist der Genfer Flüchtlingskonvention. Verneinte man die Zulässigkeit eines solchen Hinweises, so hätte dies zur Folge, dass der Reiseausweis in solchen Fällen nicht aufklärbarer ernsthafter Identitätszweifel versagt werden könnte, da mangels Erkennbarkeit dieser Zweifel dessen erwähnte Ordnungs- und Kontrollfunktionen beeinträchtigt wären. Für die Zulässigkeit des in Rede stehenden Vermerks spricht auch § 15 des Anhangs zur Genfer Flüchtlingskonvention, der auf im Reiseausweis angebrachte Vermerke abstellt.

Dementsprechend geht das innerstaatliche deutsche Recht von der Zulässigkeit eines solchen Hinweises aus (vgl. Welte, in: Jakober/Welte, Aktuelles Ausländerrecht, Band 3, A 1.2.1 § 22 DVAuslG Rn. 3). Nach § 22 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 DVAuslG (in der geänderten Fassung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes vom 9. Januar 2002 <BGBl I S. 361> dürfen Passersatzpapiere, zu denen Reiseausweise für Flüchtlinge nach Art. 28 GFK gehören (§ 14 Abs. 2 Nr. 1 b DVAuslG), - neben einer Seriennummer und einer Zone für das automatische Lesen - nur die in § 39 Abs. 1 AuslG bezeichneten Daten und damit auch den Hinweis enthalten, "dass die Personalangaben auf den eigenen Angaben des Ausländers beruhen" (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 3 Nr. 10 AuslG in der ebenfalls durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz geänderten Fassung).

Die Heranziehung dieser Grundsätze ergibt, dass die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts die Versagung des Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK nicht tragen. Der Umstand, dass die Klägerinnen ohne ihre Identität belegende Dokumente eingereist sind, berechtigte die Beklagte nur dazu, von den Klägerinnen Nachweise zur Klärung ihrer Identität zu verlangen, soweit ihnen dies zumutbar war. Das Berufungsgericht hat es aber unter Verstoß gegen die ihm obliegende Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) versäumt, sorgfältig zu prüfen, ob den Klägerinnen die geforderte Mitwirkung in Gestalt der Vorlage von Identitätsnachweisen - unter Berücksichtigung der damaligen Verhältnisse im Irak und der Belange ihrer nach eigenen Angaben dort lebenden Eltern bzw. Großeltern - zugemutet werden konnte. Mangels dieser Prüfung rechtfertigt die berufungsgerichtliche Feststellung, dass die Klägerinnen der Ausländerbehörde zweimal gefälschte Personenstandsurkunden vorgelegt haben, noch nicht die Versagung des Reiseausweises.