OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 22.01.2004 - 3 EO 1060/03 - asyl.net: M5226
https://www.asyl.net/rsdb/M5226
Leitsatz:

1. Die örtliche Zuständigkeit der Ausländerbehörde (§ 63 AuslG, § 3 Abs. 1 Nr. 3a ThürVwVfG) richtet sich nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Asylbewerbers (vgl. § 30 Abs. 3 SGB I), der durch den Aufenthaltsort in der asylverfahrensrechtlichen Zuweisung bestimmt wird.

2. Die Zuweisung des Asylsuchenden beschränkt seinen Aufenthalt regelmäßig auch nach Abschluss des Asylverfahrens räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde (vgl. § 44 Abs. 6 AuslG, § 71 Abs. 7 AsylVfG). Die anderweitige örtliche Zuständigkeit einer Ausländerbehörde, für deren Bezirk eine vom Zuweisungsort abweichende Aufenthaltsnahme begehrt wird, schließt § 64 Abs. 2 S. 2 AuslG aus.

3. Ein zwingendes Abschiebungshindernis liegt grundsätzlich dann vor, wenn es den Ehepartnern - auch nicht nur vorübergehend - unzumutbar ist, die Lebensgemeinschaft durch Ausreise des ausländischen Ehegatten zur Heilung eines früheren Verstoßes gegen die Visumspflicht bei der Einreise (vgl. §§ 8 Abs. 1 Nr. 1, 9 Abs. 1 Nr. 1 AuslG) zu unterbrechen. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Nigerianer, Abgelehnte Asylbewerber, Gewöhnlicher Aufenthalt, Zuweisung, Räumliche Beschränkung, Aufenthaltsbefugnis, Duldung, Schutz von Ehe und Familie, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Ausländerbehörde, Örtliche Zuständigkeit, Visumspflicht, Visumsverfahren, Zumutbarkeit, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung, Ehegatte, Krankheit, Psychische Erkrankung, Suizidgefahr
Normen: VwGO § 123; AuslG § 63; AuslG § 44 Abs. 6; AuslG § 64 Abs. 2; AuslG § 17; AuslG § 23; AuslG § 30; AuslG § 55 Abs. 2; GG Art. 6
Auszüge:

Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, kann unter bestimmten Voraussetzungen zu einem Abschiebungshindernis führen. Diese Grundrechtsnorm gewährt zwar unmittelbar keinen Anspruch auf Aufenthalt; die entscheidende Behörde hat aber die ehelichen und familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, bei der Anwendung offener Tatbestände und bei der Ermessensausübung pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz von Ehe und Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den Aufenthalt seine Bindungen an im Bundesgebiet berechtigterweise lebende Familienangehörige und Ehepartner angemessen berücksichtigen (st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 - AuAS 2000, 43; Beschluss vom 1. August 1996 - 2 BvR 111/96 - NVwZ 1997, 479, m. w. N. sowie Beschluss vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84- BVerfGE 80, 81, 93; BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - 1 C 19/96 - a.a.O., S.17, m.w.N.).

Im Rahmen dieser Ermessensausübung drängt die Pflicht des Staates, Ehe und Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig dann zurück, wenn ein aufenthaltsberechtigter Ehepartner oder ein aufenthaltsberechtigtes Familienmitglied auf die Lebenshilfe des anderen Ehepartners bzw. Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt. Dem ausreisepflichtigen Ehegatten ist ein - auch nur vorübergehendes - Verlassen des Bundesgebietes jedenfalls dann nicht zuzumuten, wenn einer der Ehegatten auf Grund individueller Besonderheiten, Krankheit etc., mehr als im Regelfall auf persönlichen Beistand angewiesen ist. Sind diese Voraussetzungen einer ehelichen oder familiären Beistandsgemeinschaft gegeben, ist es dem Ausländer kraft Verfassungsrechts nicht zuzumuten, seine ehelichen oder familiären Beziehungen längerfristig durch Ausreise zu unterbrechen: mithin liegt ein Duldungsgrund i. S. d. § 55 Abs. 2 AuslG vor (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 - 1 C 9/95 - BVerwGE 105, 35; zur familiären Beistandsgemeinschaft: Beschluss des Senats vom 15. November 2002 - 3 EO 438/02 - S. 6 ff. des amtlichen Abdrucks, n. v.).

Gemessen an diesen Maßstäben, die auch weitere Oberverwaltungsgerichte ihrer Rechtsprechung zu Grunde legen (vgl. nur VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 5. Juli 1999 -13 S 1101/99 - NVwZ 1999, Beilage Nr. 10, 97 = VBIBW 1999, 468, vom 29. März 2001 - 13 S 2643/00 - InfAuslR 2001, 283 und vom 19. April 2001 - 13 S 555/01 - InfAuslR 2001, 381; OVG Hamburg, Beschluss vom 23. August 1991 - BS V 100/91 -; HessVGH, Beschluss vom 30. April 2001 - 3 UZ 757/01.A; - Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 16. Januar 2003 - 13 ME 28/03 - InfAuslR 2003, 332; OVG Saarland, Beschluss vom 25. Mai 2000 - 9 W 1/00 - sowie vom 17. Juli 2000 - 1 W 1/99 - InfAuslR 2001, 12; jeweils zitiert nach Juris), erscheint es bei summarischer Prüfung derzeit durchaus als möglich, dass jedenfalls eine solche eheliche Beistandsgemeinschaft besteht und daher ein zwingendes Abschiebungshindernis vorliegt.

In den eingereichten ärztlichen Bescheinigungen vom 25. August 2003, 4. September 2003 und 6. November 2003 wird - ohne dass die Ausführungen zur Anamnese, Diagnose und Prognose der gesundheitlichen Gefährdung der ehemals drogenabhängigen Antragstellerin zu 2. pauschal bleiben - dargelegt, dass die Genannte durch die Bekanntschaft mit dem Antragsteller zu 1. seit 2002 eine gesundheitliche Besserung erfahren habe und bei einer Abschiebung des Antragstellers zu 1. ein Rückfall und damit ein "desaströser körperlicher und psychischer Zustand" bis hin zu Selbstmordtendenzen drohe.

Zwar mag es angesichts der wegen Verdachts auf Drogenhandel erfolgten Verhaftungen des Antragstellers zu 1. zweifelhaft erscheinen, dass dieser Auslöser des dargelegten gebesserten gesundheitlichen Zustandes der Antragstellerin zu 2. sein soll. Zwingend ist dieser Schluss aber nicht.

Ob dies so ist, bedarf somit weiterer Aufklärung, gegebenenfalls durch entsprechende Gutachten. Die bislang vorgelegten medizinischen Stellungnahmen reichen nicht aus, um die Frage abschließend zu beantworten, ob und in welchem Maße die Antragstellerin zu 2. tatsächlich ohne hinnehmbare Unterbrechung auf die Hilfe des Antragstellers zu 1. angewiesen ist. Die Antwort auf diese Frage ist bei der Gegenüberstellung der öffentlichen (insbesondere der einwanderungspolitischen) Interessen und der privaten, durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Belange von nicht unerheblicher Bedeutung.

Eine weitere Klärung der offenen Fragen, namentlich durch Einholung eines sucht-medizinisch-psychologischen Gutachtens in diesem Beschwerdeverfahren erscheint angesichts der Besonderheiten des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes untunlich. Nach Sinn und Zweck eines solchen Verfahrens ist es grundsätzlich nicht Aufgabe der Gerichte, stets eine umfassende rechtliche Prüfung der Hauptsache vorzunehmen. Denn damit würde die Effektivität dieses Verfahrens und damit des gerichtlichen Rechtsschutzes insgesamt geschwächt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 1998. 2 BvR 378/98. , NVwZ-RR 1999, 217, 218).

Die Entscheidung darüber, ob eine einstweilige Anordnung zu erlassen ist oder nicht, war demnach anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der widerstreitenden privaten und öffentlichen Interessen zu treffen. Diese Abwägung fällt hier zugunsten der Antragsteller aus.

Um den möglichen Nachteil für das öffentliche Interesse auch im Hinblick auf die Tatsache, dass der Antragsteller zu 1. strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, gering zu halten, und im Interesse einer möglichst raschen Klärung ist eine zeitliche Befristung der einstweiligen Anordnung angezeigt. Eine Dauer von knapp sechs Monaten bis zum 30. Juni 2004 sollte genügen, um der Widerspruchsbehörde Gelegenheit zu geben, die nötigen Ermittlungen durchzuführen, z. B. ein aussagekräftiges suchtmedizinisches und/oder psychologisches Gutachten einzuholen, auf dessen Grundlage sie sodann entscheidet. Bis dahin ist das tatsächliche Verbleiben des Antragstellers im Bundesgebiet hinzunehmen.