OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Urteil vom 18.12.2003 - 3 KO 275/01 - asyl.net: M5228
https://www.asyl.net/rsdb/M5228
Leitsatz:

§ 51 Abs. 1 AuslG nach Verurteilung in Deutschland wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz wegen Tätigkeit für die verbotene PKK und wegen herausgehobener exilpolitischer Aktivität; türkische Behörden erhalten durch Strafnachrichtenaustausch Kenntnis von Verurteilungen.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, PKK, Verstoß gegen ein Vereinsgesetz, Vereinsverbot, Strafverfahren, Strafnachrichtenaustausch, Überwachung im Aufnahmeland, Kurdisch-Deutscher Freundschaftsverein, Funktionäre, Internet, Interne Fluchtalternative, Drittstaatenregelung, Einreise, Luftweg, Beweislast
Normen: GG Art. 16a; AsylVfG § 26a; AuslG § 51 Abs. 1; EuRHÜbk Art. 22
Auszüge:

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 51 Abs. 1 AuslG.

Denn unabhängig davon, ob der Kläger vorverfolgt ist, drohen ihm zur Überzeugung des Senats jedenfalls nunmehr - zum jetzigen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - aufgrund eines Nachfluchttatbestandes im Falle einer Rückkehr in die Türkei dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgungsmaßnahmen.

Keiner abschließenden Erörterung bedarf, ob eine Rückkehrgefährdung des Klägers

bereits allein im Hinblick auf seine - nicht nur untergeordneten - Exilaktivitäten in der

Bundesrepublik Deutschland und die Berichterstattung über Anwerbeversuche von Mitarbeitern des Thüringer Verfassungsschutzes in der Tageszeitung (...) und im Internet angenommen werden kann. Für den Kläger ergibt sich ein Nachfluchtgrund schon daraus, dass er vom Landgericht Nürnberg-Fürth durch Urteil vom 3. September 1997 (Az.: 1 KLs 405 Js 34305/96) rechtskräftig zu einer Geldstrafe von (...) wegen Zuwiderhandlung gegen ein Vereinsverbot nach § 18 Satz 2 VereinsG in Tateinheit mit Urkundenfälschung verurteilt wurde, weil er sich nach den strafgerichtlichen Feststellungen im (...)einen gefälschten Pass besorgt und mit einem Pkw Propagandamaterial der PKK (u. a. 300 Exemplare der Zeitung "Serxwebun") transportiert hatte.

Es ist davon auszugehen, dass die türkischen Behörden zum maßgeblichen - jetzigen - Zeitpunkt der Entscheidung des Senats von dieser rechtskräftigen Verurteilung des Klägers aufgrund des regulären Strafnachrichtenaustausches zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei Kenntnis erlangt haben.

Es ist darüber hinaus davon auszugehen, dass die dadurch gewonnenen Informationen von der Generalsicherheitsdirektion in Ankara erfasst worden sind und die für den Heimatort des Klägers zuständige Polizeibehörde benachrichtigt worden ist (vgl. AA vom 15. Mai 1998 an VG Freiburg zu A 8 K 12201/95). Die in Rede stehende Verurteilung des Klägers ist bereits seit dem 3. September 1997 rechtskräftig und war - ausweislich eines in den beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Ausländerbehörde befindlichen Auszugs aus dem Bundeszentralregister vom 2. Februar 2000 - jedenfalls schon zu diesem Zeitpunkt im Register eingetragen. Im Hinblick auf diesen bereits länger zurückliegenden Zeitpunkt und die generelle Praxis liegt es nahe, dass inzwischen die türkischen Behörden im Wege des Strafnachrichtenaustausches Kenntnis von der Verurteilung des Klägers und die ihr zugrunde liegende Tat erlangt haben, ohne dass es hierzu der gesonderten Einholung einer Auskunft darüber bedarf, ob auch gerade im konkreten Fall des Klägers tatsächlich eine entsprechende Nachricht erstellt und an die türkischen Behörden weitergeleitet worden ist.

Auf der Grundlage dieser in die Gefahrenprognose einzustellenden Nachrichtenübermittlung besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in sein Heimatland dort verhaftet oder sonstigen asylerheblichen Repressalien ausgesetzt sein wird. Der Senat muss nicht Gewissheit haben, ob - im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung des türkischen Grenzregimes - der Kläger entsprechende Verfolgungsmaßnahmen bereits in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einreise in die Türkei zu gewärtigen hat oder sich seine Überprüfung nicht in einer eingehenden Routinekontrolle mit einer ausführlichen persönlichen Befragung durch die türkische Grenzpolizei erschöpfen werde. Das gilt auch für die weitere Frage nach der Wahrscheinlichkeit dafür, dass die türkische Grenzpolizei - etwa im Rahmen einer persönlichen Befragung oder durch Rückfragen bei der Generalsicherheitsdirektion oder bei der für den Heimatort des Klägers örtlich zuständigen Polizeibehörde - von seiner strafrechtlichen Verurteilung erfahren wird.

Gegen die Annahme, im Rahmen der - bei kurdischen Asylbewerbern üblichen -Routineüberprüfung werde ein in Deutschland wegen einer politischen Straftat verurteilter Rückkehrer gezwungen sein, seine strafrechtliche Verurteilung und deren tatsächlichen Hintergrund zu offenbaren, spricht, dass die in diesem Stadium stattfindenden Untersuchungsmaßnahmen im Regelfall nicht von Misshandlungen begleitet werden. In Fällen fehlender aktueller landesweiter Fahndung wegen bekannt gewordener oder jedenfalls vermuteter politischer Aktivitäten ist es grundsätzlich nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Rückkehrer - über eine Routineüberprüfung hinaus - noch längere Zeit festgehalten oder gar anderen Sicherheitsbehörden - zum Zwecke einer eingehenderen Untersuchung - übergeben wird, in deren Rahmen er intensive Verhöre und damit verbundene erhebliche Drangsalien wie Freiheitsentzug, Folter oder Misshandlungen zu befürchten hätte (vgl. zur näheren Ausgestaltung des türkischen Grenzregimes Senatsurteil vom 10. Januar 2003 - 3 KO 200/99 - m. w. N.). Die Gefahr einer landesweiten Fahndung nach dem Kläger ergibt sich jedenfalls noch nicht allein daraus, dass die türkischen Behörden über die Verurteilung des Klägers in Deutschland u. a. wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz (§§ 18 Satz 2, 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 VereinsG) informiert sind. Rückfragen bei der für den Heimatort des Rückkehrers örtlich zuständigen Polizeibehörde oder der Generalsicherheitsdirektion bzw. dem Zentralen Amt für Sicherheit sind, sofern nicht konkrete Anhaltspunkte für eine Unterstützung der PKK oder anderer illegaler Organisationen bestehen, nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

Ob im konkreten Fall des Klägers - etwa angesichts zu Tage getretener besonderer Verdachtsmomente aufgrund bekannt gewordener politischer Aktivitäten vor oder nach seiner Ausreise - mit derartigen über eine - Routineüberprüfung hinausgehenden Maßnahmen zu rechnen ist, kann letztlich auf sich beruhen.

Denn es ist jedenfalls beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach (...), an seinen letzten Wohnort in der Türkei, dort Verfolgungsmaßnahmen durch die türkischen Sicherheitsbehörden ausgesetzt sein würde, da zumindest die örtlich zuständige Polizeibehörde über die strafrechtliche Verurteilung des Klägers benachrichtigt worden ist (vgl. insbesondere AA vom 15. Mai 1998 an VG Freiburg zu A 8 K 12201/95, BMJ vom 22. Mai 1998 und Generalbundesanwalt vom 16. April 1998 jeweils an VG Freiburg zu A 8 K 12201/95). Mangels anderweitiger Hinweise zum Inhalt der Benachrichtigung ist davon auszugehen, dass die örtlich zuständige Polizeibehörde vom gesamten Inhalt einer Strafnachricht Kenntnis erlangt. Der Senat versteht die bereits zitierte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15. Mai 1998 an das VG Freiburg (zu A 8 K 12201/95) nicht dahin, dass sie sich auf die bloße Mitteilung beschränke, es erfolge eine Benachrichtigung, und den Inhalt der Unterrichtung offen lasse. Soweit der Senat aus dem vorliegenden Erkenntnismaterial zum Strafnachrichtenaustausch in seinem früheren Urteil vom 29. Mai 2002 - 3 KO 540/97 - (AuAS 2003, 120 <L>) andere Schlussfolgerungen gezogen hat, hält er hieran nicht mehr fest. Hat die örtlich zuständige Polizeibehörde vom gesamten Inhalt der Strafnachricht Kenntnis erlangt, so wird schon deshalb der Kläger aus der allgemeinen Gruppe kurdischer Rückkehrer in erheblicher Weise hervortreten und als Regimegegner in das Blickfeld der örtlich zuständigen Sicherheitsbehörden geraten. Zwar erschöpft sich der Inhalt einer Strafnachricht - wie bereits ausgeführt - im Wesentlichen in der Mitteilung der persönlichen Daten des Betroffenen, der abgeurteilten Straftaten nach ihrer abstrakten Deliktsbezeichnung nebst den entsprechenden Strafvorschriften und der Art und Höhe der verhängten Strafen und etwaiger Nebenfolgen, enthält also keine Informationen zu dem der Verurteilung zugrunde liegenden Tatgeschehen. Tragfähige Hinweise ergeben sich im vorliegenden Fall aber schon aus dem verwirklichten Straftatbestand der Zuwiderhandlung gegen ein Verbot gemäß §§ 18 Satz 2, 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 VereinsG selbst. Sowohl die abstrakte Deliktsbezeichnung als auch die Strafvorschriften bieten ohne Weiteres Anhaltspunkte für einen politischen Hintergrund der abgeurteilten Tat. Auch angesichts der kurdischen Volkszugehörigkeit des Klägers muss der Inhalt der Strafnachricht - aus der Perspektive der türkischen Sicherheitsbehörden - es nahe legen, dass der abgeurteilten Straftat Aktivitäten für die PKK, ihrer Teilorganisationen oder sonstiger ihr politisch nahe stehender Vereinigungen zugrunde liegen. In diesem Falle bestehen auch aus der Sicht der örtlich zuständigen Sicherheitsbehörden (wie bereits die Beobachtung im Bundesgebiet belegt, vgl. UA S. 24 Abs. 3) Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene im Bundesgebiet sich für die "kurdische Sache" eingesetzt hat und zumindest in Kontakt mit entsprechenden - illegalen - Organisationen getreten ist.

Der Kläger wird im Falle der Rückkehr in die Türkei dort umso mehr in das besondere Blickfeld der örtlich zuständigen Sicherheitsbehörden geraten, als er während seines Aufenthalts in Deutschland darüber hinaus mehrfach wegen anderer Straftaten rechtskräftig verurteilt worden und davon auszugehen ist, dass auch hiervon die türkischen Behörden im Wege des beschriebenen Strafnachrichtenaustausches erfahren haben.

Des Weiteren ist er auch dadurch aus dem allgemeinen Kreis kurdischer Rückkehrer herausgetreten, als er sich in der Bundesrepublik Deutschland exilpolitisch in nicht nur untergeordneter Weise betätigt hat.

Ausgehend von den Erkenntnissen zur Auslandsüberwachung exilpolitischer Aktivitäten durch die türkischen Behörden rechtfertigt das tatsächliche Vorbringen des Klägers die Annahme, dass dieser aufgrund seiner Exilaktivitäten in besonderer Weise in das Blickfeld der türkischen Sicherheitsbehörden geraten ist. So ist der Kläger nicht nur einfaches Vereinsmitglied des "Kurdisch-Deutschen-Freundschaftsvereins", in Erfurt (mit ca. 180 Mitgliedern). Vielmehr hat er in dem Verein als Mitglied des fünfköpfigen Vereinsvorstandes, dem er, wie er glaubhaft angegeben hat, seit drei Jahren angehört, besondere Funktionen inne.

Bereits die politische Ausrichtung des Vereins lässt es nahe liegend erscheinen, dass der Kläger als Vorstandsmitglied die Aufmerksamkeit des türkischen Sicherheitsdienstes auf sich gelenkt hat. Das gilt auch deshalb, weil er sich durch die von ihm entfalteten Aktivitäten als Regimegegner exponiert hat. So hat er an einer Reihe politischer Veranstaltungen - u. a. mit besonderer Öffentlichkeitswirkung - in Deutschland teilgenommen und solche mitorganisiert.

Die Medienberichterstattung über den Anwerbeversuch von Mitarbeitern des Thüringer Verfassungsschutzes in der Tageszeitung "Özgür Politika" und im Internet in deren Zusammenhang auch der Kläger namentlich erwähnt ist, erhöht zusätzlich die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger schon während seines Auslandsaufenthalts in Deutschland in den Blick des türkischen Sicherheitsdienstes geraten ist.

Nach alledem liegt die Annahme nicht fern, dass der Kläger als verdächtiger Rückkehrer in seiner Heimatregion von den örtlichen Sicherheitsbehörden eingehend zu vermuteten illegalen, separatistischen Aktivitäten und Kontakten zu politischen Organisationen verhört würde, in deren Verlaufe er erhebliche Drangsalien wie Freiheitsentzug, Folter oder Misshandlungen zu befürchten hätte.

Die vom Kläger zu gewärtigenden Verfolgungsmaßnahmen weisen auch die nach § 51 Abs. 1 AuslG erforderliche politische Zielrichtung auf.

Drohen dem Kläger somit jedenfalls in (...), an seinem letzten Wohnort vor seiner Ausreise aus der Türkei, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgungsmaßnahmen, ergibt sich zur Überzeugung des Senats auch weitergehend, dass der Kläger sich nach einer Rückkehr in die Türkei dort landesweit in einer ausweglosen Lage befinden wird, denn für ihn besteht in den übrigen Landesteilen der Türkei keine inländische Fluchtalternative.