OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 26.05.2004 - 11 ME 70/04 - asyl.net: M5237
https://www.asyl.net/rsdb/M5237
Leitsatz:

Auch wenn einem Elternteil das Sorgerecht für sein Kind fehlt und es nicht mit ihm in häuslicher Lebensgemeinschaft lebt, kann aufgrund der tatsächlichen Verbundenheit eine unter dem ausländerrechtlichen Schutz des Art. 6 GG stehende familiäre Lebensgemeinschaft bestehen; für den Kindernachzug gemäß § 20 Abs. 1 AuslG zu einem Asylberechtigten müssen grundsätzlich die Voraussetzungen des § 17 Abs. 2 AuslG vorliegen, davon kann aber nach § 17 Abs. 3 AuslG im Ermessenswege abgesehen werden.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: D (A), Asylberechtigte, Familienangehörige, Kinder, in Deutschland geborene Kinder, Sorgerecht, Umgangsrecht, Familienzusammenführung, nachträgliche Befristung, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Regelversagungsgründe, Sozialhilfebezug, Ehegatte, Ehescheidung, Eigenständiges Aufenthaltsrecht, Schutz von Ehe und Familie, Familiäre Lebensgemeinschaft, Beistandsgemeinschaft, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AuslG § 19 Abs. 2 ; AuslG § 19 Abs. 1 Nr. 1 ; AuslG § 7 Abs. 2 Nr. 2 ; AuslG § 46
Auszüge:

Es erscheint fraglich, ob die Antragsgegnerin und ihr folgend das Verwaltungsgericht einen Anspruch des Antragstellers zu 2) auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 20 Abs. 1 und 6 AuslG zu Recht abgelehnt haben. Ebenso begegnet die nachträgliche zeitliche Beschränkung der bis zum 28. Januar 2013 befristeten Aufenthaltserlaubnis der Antragstellerin zu 3) nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG Bedenken. Da es sich bei dem Antragsteller zu 2) und der Antragstellerin zu 3) um minderjährige ledige Kinder eines Asylberechtigten handelt, ist ihnen gemäß § 20 Abs. 1 AuslG nach Maßgabe des § 17 AuslG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen bzw. gemäß § 20 Abs. 6 AuslG zu verlängern. § 17 Abs. 1 AuslG setzt die Herstellung bzw. Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft des minderjährigen ledigen Kindes mit dem Asylberechtigten im Bundesgebiet voraus. An dem Vorliegen einer derartigen familiären Lebensgemeinschaft zwischen den Antragstellern zu 2) und 3) und ihrem Vater haben die Antragsgegnerin und das Verwaltungsgericht erhebliche Zweifel geäußert. Sie sind der Auffassung, dass hier lediglich eine nicht dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG unterfallende Begegnungsgemeinschaft bestehe. Dieser Einschätzung vermag sich der Senat jedenfalls nach der Aktenlage im jetzigen Zeitpunkt nicht anzuschließen. Dies ergibt sich aus folgendem:

Auch wenn einem Vater - wie hier - das elterliche (Mit-)Sorgerecht fehlt, kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung ist und daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG steht. Die zuständigen Behörden und Gerichte haben bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, angemessen zu berücksichtigen. Dies gilt auch dann, wenn eine häusliche Gemeinschaft zwischen ihnen nicht besteht. Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG freilich nicht schon aufgrund formal-rechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist.

Hiervon ausgehend spricht nach dem derzeitigen Erkenntnisstand einiges dafür, dass zwischen den Antragstellern zu 2) und 3) und ihrem Vater trotz getrennter Wohnungen in J. eine familiäre Lebensgemeinschaft besteht. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich der persönliche Kontakt in gelegentlichen Besuchen ohne darüber hinausgehende Beistandsleistungen erschöpft. So hat die Antragstellerin zu 1) im Hinblick auf die jetzt sieben Jahre alte Antragstellerin zu 3) durchgängig vorgetragen, dass diese bei ihrem Vater jede Woche von Freitagmittag bis Sonntagnachmittag bleibe und sehr an ihm hänge. Auch die Leiterin der Kindertagesstätte I., in der die Antragstellerin zu 3) nach Ende des Unterrichts in der ersten Klasse der Grundschule betreut wird, hat mit Schreiben vom 26. März 2004 bestätigt, dass die Antragstellerin zu 3) ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater habe, der sie zeitweise von der Schule in den Hort gebracht und von dort auch wieder abgeholt habe. Was den am (...) vier Jahre alt werdenden Antragsteller zu 2) angeht, hat die Antragstellerin zu 1) im erstinstanzlichen Verfahren angegeben, dass dieser seinen Vater regelmäßig einmal in der Woche für einen Tag besuche. Im Beschwerdeverfahren hat die Antragstellerin zu 1) nunmehr eine vor dem Fachbereich Jugend und Familie Kommunaler Sozialdienst der Antragsgegnerin geschlossene Umgangsvereinbarung vom (...) vorgelegt, wonach ihr geschiedener Ehemann auch den Antragsteller zu 2) an jedem Freitag aus dem Hort abholt, ihn für das Wochenende zu sich nimmt und am Sonntagnachmittag zu der Antragstellerin zurückbringt. Sollte das Umgangsrecht tatsächlich auch in dieser Form regelmäßig praktiziert werden, dürfte feststehen, dass der Vater der Antragsteller zu 2) und 3) einen nicht unerheblichen Anteil an der Betreuung und Erziehung seiner Kinder übernimmt.

Da § 20 Abs. 1 AuslG auch im Übrigen auf die Voraussetzungen des § 17 AuslG verweist, stellt sich die Frage, ob insbesondere an dem Erfordernis des gesicherten Lebensunterhalts uneingeschränkt festzuhalten ist. Dies ist umstritten. So vertreten etwa Hailbronner (aaO, § 20 RdNr. 6) und Huber (Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, II RdNr. 306) die Auffassung, dass ein Familiennachzug zu Asylberechtigten im allgemeinen nicht von dem Nachweis eines geregelten Einkommens abhängig gemacht werden kann. Sie führen zur Begründung an, dass die auf den Normalfall eines Ausländers bezogenen Einschränkungen des Nachzugs von Familienangehörigen sich nicht undifferenziert auf die besondere Situation des Asylberechtigten und dessen Familie übertragen ließen. Der politisch Verfolgte könne weder den Zeitpunkt seiner Ausreise selbst bestimmen noch bestehe für ihn die Möglichkeit, seine Familie im Heimatland zu besuchen. Es entspreche der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass der aufenthaltsrechtliche Schutz für einen Ausländer, der mit einem rechtmäßig im Bundesgebiet ansässigen Asylberechtigten verheiratet sei, im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich ebenso weit reiche wie der eines mit einem Deutschen verheirateten Ausländers (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.10.1989, NVwZ 1990, 376). Dementsprechend dürfe der Nachzug des Ehegatten und auch der minderjährigen Kinder eines Asylberechtigten grundsätzlich nicht schon deswegen versagt werden, weil ihr Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfe bestritten werden könne. Demgegenüber stellen sich Renner (aaO, § 20 AuslG RdNr. 4) und Igstadt (in: GK-AuslR, § 20 AuslG RdNr. 40) auf den wohl vorzugswürdigen Standpunkt, dass angesichts des eindeutigen Wortlauts von § 20 Abs. 1 AuslG im Grundsatz auch die Voraussetzungen des § 17 Abs. 2 AuslG vorliegen müssen, aber davon nach § 17 Abs. 3 AuslG im Ermessenswege abgesehen werden kann. In diese Richtung geht auch Ziffer 20.1.1 und 2 AuslG-VwV. Danach sind der nach dem Grundgesetz gebotene Schutz von Ehe und Familie sowie das Wohl des Kindes als besondere Umstände zu werten, die eine Abweichung von § 17 Abs. 2 Nr. 3 bzw. § 7 Abs. 2 AuslG rechtfertigen können. Im Falle des Antragstellers zu 2) ist zusätzlich § 20 Abs. 6 AuslG zu berücksichtigen. Danach wird die einem Kind erteilte Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 17 Abs. 2 Nr. 2 und 3 AuslG verlängert. Allerdings kann die Aufenthaltserlaubnis im Falle der Sozialhilfebedürftigkeit des Kindes nach § 17 Abs. 5 i.V.m. § 46 Nr.6 AuslG versagt werden, wobei aber auch hier der Schutzzweck des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG zu berücksichtigen ist (vgl. Ziff. 20.6.2.3 AuslG-VwV). Auch diese Fragen sind bisher von der Antragsgegnerin nicht hinreichend geprüft worden. Es bedarf ferner der Klärung, ob und ggf. in welchem Umfang der Vater der Antragsteller zu 2) und 3) Unterhalt für seine Kinder leistet. Dazu finden sich in den dem Senat vorliegenden Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin keine aussagekräftigen Hinweise.

Vor diesem Hintergrund wäre es im jetzigen Zeitpunkt unverhältnismäßig, die Ausreise der Antragsteller zwangsweise durchzusetzen. Das gilt auch für die Antragstellerin zu 1). Zwar hat diese voraussichtlich keinen Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis, doch kann den Antragstellern zu 2) und 3) schon aufgrund ihres Alters nicht zugemutet werden, ohne die Betreuung durch ihre allein personensorgeberechtigte Mutter in Deutschland zu bleiben. Hinzu kommt, dass ohne den durch den Senat angeordneten Suspensiveffekt des Widerspruchs der Antragsteller bis zur Widerspruchsentscheidung den Beziehungen des Vaters der Antragsteller zu 2) und 3) zu seinen Kindern durch ihre Abschiebung in die Türkei erheblicher Schaden zugefügt werden würde, zumal er sie dort nicht besuchen kann (vgl. zu diesem Aspekt BVerfG, Beschl. v. 31.8.1999, InfAuslR 2000, 67).