OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26.05.2004 - 8 A 3852/03.A - asyl.net: M5246
https://www.asyl.net/rsdb/M5246
Leitsatz:

Die drohende Verletzung des Rechts auf einen fairen Prozess gem. Art. 6 EMRK kann ein Abschiebungshindernis gem. § 53 Abs. 4 AuslG begründen; § 53 Abs. 4 AuslG auch anwendbar bei Abschiebung in einen Unterzeichnerstaat der EMRK (hier Türkei).(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kalifatsstaat, Kalif, Auslieferungsersuchen, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Foltergefahr, Todesstrafe, Menschenrechtswidrige Behandlung, Faires Verfahren, Strafverfolgung, Strafverfahren, Haftbedingungen, Isolationshaft, Strafvollzug, Religionsfreiheit, Religiöses Existenzminimum, Schutz von Ehe und Familie, Beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Terrorismusvorbehalt, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, EGMR, Unterzeichnerstaat
Normen: AuslG § 53 Abs. 3; AuslG § 53 Abs. 2; AuslG § 53 Abs. 4; EMRK Art. 3; EMRK Art. 6; EMRK Art. 8; EMRK Art. 9
Auszüge:

 

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung des Bestehens von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG bezüglich der Türkei.

Der geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG wird nicht durch den Terrorismusvorbehalt bzw. durch § 51 Abs. 3 AuslG ausgeschlossen, so dass es auf die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob von ihm - weiterhin - im Sinne von § 51 Abs. 3 Satz 1 AuslG eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, im vorliegenden Zusammenhang nicht ankommt.

Indes greift keine der hier in Frage kommenden Alternativen des § 53 AuslG zugunsten des Klägers ein. Ihm droht in der Türkei nicht die konkrete Gefahr, der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (§ 53 Abs. 1 AuslG bzw. § 53 Abs. 4 AuslG i. V .m. Art. 3 EMRK). Die Abschiebung ist auch nicht gemäß § 53 Abs. 4 AuslG nach anderen Bestimmungen der EMRK unzulässig, und zwar weder unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK), noch des Rechts auf Religionsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 EMRK), noch des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK). Ihm droht auch nicht die Todesstrafe (§ 53 Abs. 2 AuslG) oder eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG.

Der Kläger kann die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nicht nach § 53 Abs. 1 AuslG bzw. § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen der Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung beanspruchen. Mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger bei Rückkehr in die Türkei eine derartige Gefahr weder während des dort zu erwartenden Strafverfahrens noch mit Blick auf die voraussichtlichen Umstände der Haft und deren Dauer.

Maßgeblich sowohl für § 53 Abs. 1 AuslG als auch für § 53 Abs. 4 AuslG iVm Art 3 EMRK ist der Prognosemaßstab der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit".

Dem Kläger droht nach der Erkenntnislage des Senats derzeit nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit, bei einer Rückkehr in die Türkei während des dort zu erwartenden Strafverfahrens gefoltert bzw. unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden. Allerdings sieht der Senat gegenwärtig - noch - keinen Anlass, seine in ständiger Rechtsprechung vertretene Einschätzung aufzugeben, wonach Folter in der Türkei so weit verbreitet ist, dass von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis, nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte auszugehen ist (vgl. Senatsurteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, Urteilsabdruck S. 25 f. und 38 ff.).

Im Falle des Klägers ist die Gefahr der Folter oder unmenschlicher Behandlung jedoch so weit herabgesetzt, dass ihm eine derartige Behandlung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

Dabei mag dahinstehen, ob die Gefahr der Misshandlung von islamischen Fundamentalisten - wie dem Kläger - durch staatliche Sicherheitskräfte ohnehin deutlich geringer eingestuft werden kann (so wohl Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Türkei - Kurzinformation zur aktuellen Lage -, Februar 2002, S. 12; Rumpf, Gutachten vom 6. Januar 2001 an das VG Stuttgart; ai, Auskunft vom 2. April 2004 an den Senat, S. 2 mit Hinweis auf den Menschenrechtsreport Türkei der US-Regierung vom 25. Februar 2004, S. 3; andererseits: Kaya, Auskunft vom 30. Januar 2004 an das VG Freiburg, S. 7 ff. (zu Hisbollah-Angehörigen); ai, Jahresbericht Türkei 2003, Fischer-Verlag, S. 584).

Die Wahrscheinlichkeit, dass konkret dem Kläger derartige Misshandlungen drohen, wird - da die generelle Gefahr der Folter vornehmlich bei polizeilichen Verhören besteht - dadurch in relevantem Maße gemindert, dass das 6. Staatssicherheitsgericht Istanbul, bei dem sämtliche ihn betreffenden Strafverfahren verbunden sind, ausweislich seines Schreibens vom 16. Januar 2003 an die zuständigen Justizbehörden der Bundesrepublik Deutschland (Register-Nr.: 2001/212)

angeordnet hat den Kläger nicht der Polizei, sondern unmittelbar dem Gericht vorzuführen. Mit Verbalnote des türkischen Außenministeriums vom 15. März 2004 wird zudem ausdrücklich versichert, dass der Kläger in keinem Fall auf eine Polizeiwache gebracht, sondern direkt vor Gericht erscheinen werde.

Abgesehen von dem danach bei Vorführung vor Gericht eingreifenden Kontrollmechanismus durch Anwaltsbegleitung und mögliche ärztliche Untersuchungen, soll es eine polizeiliche Vernehmung ("police investigation") nicht mehr geben, sondern für das gesamte Strafverfahren gegen den Kläger nur noch das Gericht zuständig sein.

Foltervorwürfe im Zusammenhang mit richterlichen Vernehmungen einschließlich entsprechenden Gefängnisaufenthalten sind - namentlich mit den von der Klägerseite vorgelegten Zeitungsberichten über Folteranwendungen im Gewahrsam - weder so substantiiert vorgetragen noch sonst in so repräsentativer Art und Weise bekannt geworden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 12. August 2003, S. 48; zur verbesserten Situation, in den Gefängnissen auch: Kommission der Europäischen Union, Fortschrittsbericht Türkei vom 5. November 2003, S. 31 f.; Bericht der Deutschen Botschaft Ankara Nr. 226 vom 10. Mai 2004 - 1539 oz - unter Hinweis auf einen Kontrollbesuch des Anti-Folter- Komitees vom 16. März bis 30. April 2004), dass daraus eine beachtliche konkrete Gefahr für den Kläger abgeleitet werden könnte. In einzelnen Fällen kann es zu Übergriffen kommen, es gibt jedoch keine systematische Misshandlungspraxis (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 19. Mai 2004, S. 39).

Die in Berichten von Menschenrechtsorganisationen aufgelisteten Zahlen (auch) zu gemeldeten Übergriffen in Gefängnissen, - vgl. Özgür Politica vom 6. Dezember 2003: Innerhalb von zwei Monaten 200 Rechtsverletzungen; vom 12. Februar 2002: Die Folter verwendet nun eine andere Methode; Mili Gazete vom 12. Februar 2004: Freiheiten stehen nur auf dem Papier), widersprechen dieser Einschätzung nicht. Soweit überhaupt differenziert wird, betrifft die ganz überwiegende Zahl der Übergriffe den polizeilichen Gewahrsam. Im Übrigen lassen die Zahlen nicht erkennen, welche Gruppen von Gefangenen, welche Art von Übergriffen und welche Art und welchen Anlass der Unterbringung sie im einzelnen erfassen.

Für eine körperliche Misshandlung in Gefängnissen des F-Typs, so andeutungsweise: - ai, Auskunft vom 2. April 2004 an den Senat, S. 3, in denen der Kläger als politischer Tatverdächtiger möglicherweise jedenfalls vorübergehend untergebracht werden könnte, werden nur einzelne Referenzfälle angeführt, siehe etwa: Tayad-Komitee Hamburg, Dokumentation zu "Isolationsgefängnissen in der Türkei" vom 25. August 2003, S. 11 unter C.2 gib.squat.net/abc/HS/f-typ.html, die sich nicht verallgemeinern lassen. Die Auffassung, die in F-Typ-Gefängnissen praktizierte Isolationssituation als solche bedeute eine unmenschliche Behandlung (so ai, Auskunft vom 2. April 2004 an den Senat, S. 3; Jahresbericht Türkei 2003, S. 585 f; siehe auch: DHKC, "Reist die CPT in die Türkei, um sie von der Folter zu entlasten?", 9. März 2004, www.dhkc.netide/article.php; Tayad-Komitee Hamburg, Dokumentation zu , "Isolationsgefängnissen in der Türkei" vom 25. August 2003, a.a.O), hat das Anti-Folter-Komitee des Europarates bei mehreren Besuchen so nicht geteilt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 12. August 2003, S. 47).

Zwar sollen die Haftbedingungen in Gefängnissen des Typs F nach wie vor nicht unproblematisch sein, die Verhältnisse haben sich nach den Erkenntnissen der Kommission aber erheblich verbessert (vgl. Kommission der Europäischen Union, Fortschrittsbericht Türkei vom 5. November 2003, S. 14 und 31 f.).

Durch entsprechende Gesetzesänderungen wurde namentlich die Möglichkeit zu sozialen Kontakten für solche Gefangenen verbessert, denen politisch motivierte terroristische Aktivitäten vorgeworfen werden und gegen die - wie auch der Zeuge Rechtsanwalt U. in der mündlichen Verhandlung angegeben hat - üblicherweise schwere Einzelhaft verhängt wird (vgl. zu den Gesetzesänderungen im Strafvollzug: Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 12. August 2003, S. 48).

Die Gefahr menschenrechtswidriger Übergriffe auf den Kläger wird darüber hinaus dadurch wesentlich herabgesetzt, dass sein Bekanntheitsgrad eine gewisse Schutzfunktion erfüllt, zumal sein Fall unter intensiver Beobachtung insbesondere der deutschen Presse sowie der Menschenrechtsorganisationen und der EU-Kommission stehen wird (so schon Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 12. August 2003, S. 48).

Soweit von anderer Seite trotz des Interesses der türkischen Regierung an einem ordnungsgemäßen Verfahren zumindest keine Garantie dafür gesehen wird, dass ein unter öffentlicher Beobachtung stehender Häftling korrekt behandelt wird, weil sich die türkische Regierung noch nicht "ausreichend für die Einhaltung des Folterverbots engagiere und von Kreisen der Polizei, der Gendarmerie und des Militärs das von der türkischen Regierung verfolgte Ziel des EU-Beitritts" weitgehend nicht geteilt werde, so ai, Auskunft vom 2. April 2004 an den Senat, erreicht ein eventuell verbleibendes Restrisiko nicht den Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

Gewichtige Anhaltspunkte für die Annahme, dass den Kläger nach einer Verurteilung

Haftbedingungen erwarten, die den Tatbestand des Art. 3 EMRK erfüllen, vgl: Meyer-Ladewig, EMRK, 2003, Art. 3 Rdnr. 12, und damit als Grundlage für einen Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG in Frage kommen, vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 1. September 1994 - A16 S 486/94 -, ESVGH 45, 155 (LS), sind - über das Vorstehende hinaus - ebenfalls nicht ersichtlich.

Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK folgt auch nicht daraus, dass dem Kläger möglicherweise eine lebenslange Freiheitsstrafe droht. Ein grundsätzliches Verbot der Verhängung bzw. des Vollzugs einer lebenslangen (oder einer dieser de facto entsprechenden zeitlichen) Freiheitsstrafe kann der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entnommen werden. Freiheitsstrafen können nur dann in ein Spannungsverhältnis zu Art. 3 EMRK treten, wenn sie in keiner Relation zur Schuld des Täters und zum Unrechtsgehalt der Tat stehen (vgl. Österreichischer VerfGH, Entscheidung vom 12. Dezember 2002 - G 121/02 -, Urteilsabdruck S. 17 m.w.N).

Davon kann hier jedoch nicht die Rede sein, da es um eine Veturteilung wegen terroristischer Handlungen geht. Obwohl der EGMR in vereinzelten Fällen, vgl. etwa EGMR, Urteil vom 16. Oktober 2001- Beschwerde-Nr. 71555/01 - Fall Einhorn, Nr. 27, die Ansicht vertreten hat, lebenslange Haft ohne Aussicht auf Freilassung könne "zu Fragen nach Art. 3 EMRK führen", hat er niemals ausgesprochen, dass lebenslange Haft ohne Aussicht auf Freilassung tatsächlich eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt.

Der Kläger kann auch nicht deshalb Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG beanspruchen, weil ihn in der Türkei ein Strafverfahren erwartet, das nicht den Anforderungen des Art. 6 EMRK entspricht. Art. 6 EMRK ist zwar grundsätzlich geeignet, Abschiebungsschutz zu vermitteln; dem Kläger droht aber weder unter dem Gesichtspunkt einer fehlenden Unabhängigkeit des für ihn zuständigen türkischen Gerichts noch wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des "fairen Verfahrens" hinreichend schwere Rechtsverletzung.