OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.04.2004 - 12 B 308/04 - asyl.net: M5248
https://www.asyl.net/rsdb/M5248
Leitsatz:

Zur örtlichen Zuständigkeit nach dem AsylbLG bei Änderung des tatsächlichen Aufenthaltsortes; Abgrenzung zu §§ 27, 33 SGB VIII. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Behinderte, Sonstige Leistungen, Unterbringung, Pflegebedürftigkeit, Leistungsträger, Zuständigkeit, Örtliche Zuständigkeit, Hilfe zur Erziehung, Jugendhilfe
Normen: AsylbLG § 6; AsylbLG § 10a Abs. 1 S. 2; SGB VIII § 27; SGB VIII § 33
Auszüge:

Mit der Beschwerde greift der Antragsgegner weder die rechtliche Würdigung des Verwaltungsgerichts an, wonach die Unterbringung und Pflege der Antragstellerin bei den Eheleuten T. eine "sonstige Leistung" nach § 6 AsylbLG darstellt, noch die Beurteilung, die örtliche Zuständigkeit für diese Leistung bestimme sich nach § 10a Abs. 1 Satz 2 AsylbLG. Vielmehr macht der Antragsgegner mit der Beschwerde im Wesentlichen geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht darauf abgestellt, dass die Antragstellerin sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung im Bereich des Antragsgegners tatsächlich aufgehalten habe. Maßgeblich sei demgegenüber der tatsächliche Aufenthalt der Antragstellerin in dem Zeitpunkt, in dem die durch Leistungen nach § 6 AsylbLG zu behebende Notlage eingetreten sei, nämlich der Tag, an dem die Antragstellerin in die Pflegefamilie aufgenommen worden und damit der Unterbringungsbedarf in der Pflegestelle entstanden sei (4. Februar 2004).

Durch dieses Vorbringen wird die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, es komme nach § 10a Abs. 1 Satz 2 AsylbLG darauf an, wo sich die Antragstellerin im Januar 2004 tatsächlich aufgehalten habe, nicht erschüttert. Die Frage, auf welchen Zeitpunkt es bei der Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ankommt, beantwortet sich aus dem das Sozialhilferecht - entsprechendes gilt für das Asylbewerberleistungsrecht - prägenden und vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung hervorgehobenen Grundsatz, dass die Sozialhilfe dazu dient, eine gegenwärtige Notlage zu beheben. Ab wann eine "gegenwärtige" Notlage angenommen werden kann, richtet sich dabei nach der jeweiligen Eigenart des geltend gemachten Bedarfs (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Januar 1994 - 5 C 47.91 -, FEVS 45, S. 89 (91), sowie Urteil vom 22. Dezember 1998 - 5 C 21.97 -, FEVS 51, S. 145 (147), mit weiteren Nachweisen).

Entscheidend ist demnach nicht, ob ein Bedarf für die Zeit nach einer Ortsveränderung geltend gemacht wird, sondern ob er seiner Eigenart nach bereits am Ort des bisherigen Aufenthalts gegenwärtig war oder ob der Grundsatz der Effektivität der Sozialhilfe (bzw. Hilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz) ein Festhalten des Hilfeträgers an seiner Zuständigkeit erfordert (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Dezember 1998 - 5 C 21.97 -, a.a.O).

Bei Anwendung dieser Kriterien ergibt sich, dass im Hinblick auf die Unterbringung der Antragstellerin in einer Pflegefamilie wegen der Eigenart dieses Bedarfs spätestens seit dem 20. Januar 2004 und damit zu einer Zeit, zu der sich die Antragstellerin noch im Bereich des Antragsgegners tatsächlich aufgehalten hat, eine gegenwärtige Notlage bestanden hat. Denn die Kinderklinik des Universitätsklinikums B. hatte dem Pfleger der Antragstellerin mit Telefaxschreiben vom 20. Januar 2004 mitgeteilt: Die medizinische Akutversorgung der Antragstellerin sei abgeschlossen und ihre anstehende Entlassung aus der stationären Betreuung dringlich. Die Pflegeeltern, die inzwischen nach aufwendiger Suche gefunden worden seien, seien seit Anfang Januar 2004 bereit, das Kind mit nach Hause zu nehmen. Für einen weiteren stationären Aufenthalt bestehe somit seit langem keine Notwendigkeit mehr.

Danach war der Antragsgegner für die Gewährung von Leistungen zur Beseitigung der spätestens seit dem 20. Januar 2004 gegenwärtigen Notlage in Bezug auf die Unterbringung der Antragstellerin nach der Entlassung aus der Klinik örtlich zuständig. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist diese örtliche Zuständigkeit nicht mit der Änderung des tatsächlichen Aufenthalts der Antragstellerin - von B. nach X. - am 4. Februar 2004 entfallen. Denn § 97 Abs. 1 Satz 1 BSHG - und die diesem nachgebildete Vorschrift des § 10a Abs. 1 Satz 2 AsylbLG - fixiert die örtliche Zuständigkeit des einmal zuständig gewordenen Hilfeträgers für die Regelung zumindest derjenigen Bedarfslagen, die im Verantwortungsbereich dieses Trägers während der Dauer des tatsächlichen Aufenthalts des Hilfe Suchenden nicht nur entstanden und ihm zur Kenntnis gelangt sind, sondern von ihm auch durch Erledigung des Hilfefalles hätten beseitigt werden können (vgl. BVerwG, Urteile vom 24. Januar 1994 - 5 C 47.91 -, a.a.O., S. 92 f., vom 5. März 1998 - 5 C 12.97 -, FEVS 48, S. 433 (434) sowie vom 22. Dezember 1998 - 5 C 21.97 -, a.a.O., S. 147).

Wegen der Besonderheiten der Betreuung in der Übergangszeit mag die in Rede stehende Maßnahme längstens bis zum 30. April 2004 als "sonstige Leistung" nach § 6 AsylbLG eingeordnet werden können. Auf die Dauer jedenfalls handelt es sich bei der Unterbringung und Pflege der Antragstellerin bei den Eheleuten T. - nach summarischer Prüfung - um Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege gemäß §§ 27, 33 SGB VIII. Damit dürfte ausschließlich eine Weiterbehandlung des Hilfefalles im Rahmen des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs in Betracht kommen (vgl. zur Konkurrenz zwischen Asylbewerberleistungs- und Jugendhilferecht: Wiesner, SGB VIII, 2. Aufl. 2000, § 10 Rdnr. 39).

Die Regelung eines Vor- bzw. Nachrangs zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe (bzw. Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz) setzt notwendig voraus, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe (Asylbewerberleistungen) besteht und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 1999 - 5 C 26.98 -, FEVS 51, S. 337, 340).

Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die Unterbringung und Betreuung der Antragstellerin bei den Eheleuten T. dürfte jedenfalls nach der abgelaufenen Übergangszeit ausschließlich der Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33 SGB VIII zuzuordnen sein. Für die rechtliche Einordnung einer beanspruchten und gewährten Leistung sind deren Ursache, Zweck und auch ihr (überwiegender) Charakter maßgeblich (Vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 6. April 1995 - 12 B 92.1768 -, FEVS 46, S. 185, 191).

Die Ursache für die dauerhafte Betreuung der Antragstellerin in einer Pflegefamilie liegt nicht in erster Linie in ihren aus den Berichten des Universitätsklinikums B. vom 21. Oktober 2003 und 5. Februar 2004 ersichtlichen körperlichen Behinderungen, sondern in der Unfähigkeit ihrer Eltern, ihr trotz dieser Behinderungen eine ihrem Wohl entsprechende Erziehung zuteil werden zu lassen.