EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - C-482/01 u.a. (Orfanopoulos und Oliveri) - asyl.net: M5256
https://www.asyl.net/rsdb/M5256
Leitsatz:

Zwingende Ausweisungen von EU-Bürgern aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder deren Regelausweisung ohne Berücksichtigung des persönlichen Verhaltens oder der Gefährdung der öffentlichen Ordnung verstoßen gegen Gemeinschaftsrecht; es verstößt gegen Gemeinschaftsrecht, wenn das Gericht bei der Überprüfung der Ausweisung eines EU-Bürgers Sachvortrag nach der letzten Behördenentscheidung unberücksichtigt lässt; die nationalen Behörden müssen bei der Ausweisung im Einzelfall eine Abwägung der betroffenen Interessen unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts anstellen; es verstößt gegen Gemeinschaftsrecht, wenn die Überprüfung der Zweckmäßigkeit der Ausweisung eines EU-Bürgers ausgeschlossen ist.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Gemeinschaftsrecht, Auslegung, Unionsbürger, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Straftäter, Freiheitsstrafe, Wiederholungsgefahr, Spezialprävention, Schutz von Ehe und Familie, Beurteilungszeitpunkt, Orfanopoulos und Oliveri,
Normen: EG Art. 39; EG Art. 18 Abs. 1; EG Art. 49; RL 64/221/EWG Art. 3; RL 90/364; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1
Auszüge:

Mit Beschlüssen vom 20. November und 4. Dezember 2001, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Dezember 2001 (Rechtssache C-482/01) und am 19. Dezember 2001 (Rechtssache C-493/01), hat das Verwaltungsgericht Stuttgart nach Artikel 234 EG in beiden Rechtssachen je zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 39 Abs. 3 EG und 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850) (Rechtssache C-482/01), sowie der Artikel 39 EG und 3 dieser Richtlinie (Rechtssache C-493/01) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Orfanopoulos, einem griechischen Staatsangehörigen, sowie seinen Kindern und dem Land Baden-Württemberg (Rechtssache C-482/01) sowie zwischen Herrn Oliveri, einem italienischen Staatsangehörigen, und dem Land Baden-Württemberg (Rechtssache C-493/01) über vom Regierungspräsidium Stuttgart (im Folgenden: Regierungspräsidium) erlassene Verfügungen über die Ausweisung aus Deutschland.

1. Das vorlegende Gericht hat festzustellen, auf welche gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats wie Herr Oliveri neben Artikel 18 Absatz 1 EG unter den im Rechtsstreit in der Rechtssache C-493/01 gegebenen Umständen gegebenenfalls stützen kann. Dieses Gericht hat insoweit insbesondere zu prüfen, ob der Betroffene - als Arbeitnehmer oder als andere Person, die aufgrund der zur Durchführung des Artikels 39 EG erlassenen Vorschriften des abgeleiteten Rechts die Freizügigkeit in Anspruch nehmen kann - vom Anwendungsbereich des Artikels 39 EG erfasst wird oder ob er sich auf andere,

gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen stützen kann wie die Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht oder Artikel 49 EG, der u.a. für Dienstleistungsempfänger gilt.

2. Artikel 3 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, steht einer nationalen Regelung entgegen, die den innerstaatlichen Behörden vorschreibt, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten auszuweisen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, sofern die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

3. Artikel 3 der Richtlinie 64/221 steht einer innerstaatlichen Praxis entgegen, wonach die innerstaatlichen Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats verfügten Ausweisung einen Sachvortrag zu berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen kann, die das Verhalten des Betroffenen fur die öffentliche Ordnung darstellen würde. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Entscheidung über die Ausweisung und der Beurteilung dieser Entscheidung durch das zuständige Gericht liegt.

4. Die Artikel 39 EG und 3 der Richtlinie 64/221 stehen innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder einer innerstaatlichen Praxis entgegen, wonach die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist, trotz der Berücksichtigung familiärer Umstände auf der Grundlage der Vermutung verfügt wird, dass dieser auszuweisen ist, ohne dass sein persönliches Verhalten oder die Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt würden.

5. Artikel 39 EG und die Richtlinie 64/221 stehen der Ausweisung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist und der einerseits eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt und sich andererseits seit vielen Jahren im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und sich gegenüber dieser Ausweisung auf Umstände familiärer Art berufen kann, nicht entgegen, sofern die von den innerstaatlichen Behörden im Einelfall vorgenommene Beurteilung der Frage, wo der angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen liegt, unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere unter Wahrung der Grundrechte wie desjenigen auf Schutz des Familienlebens erfolgt.

6. Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 steht einer Bestimmung eines Mitgliedstaats entgegen, die gegen eine von einer Verwaltungsbehörde getroffene Entscheidung über die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ein Widerspruchsverfahren und eine Klage, in denen auch eine Prüfung der Zweckmäßigkeit stattfindet, nicht mehr vorsieht, wenn eine von dieser Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht besteht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Gerichte wie die Verwaltungsgerichte die Zweckmäßigkeit von Ausweisungsmaßnahmen überprüfen können.