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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 27.04.2004 - 2 BvR 1318/03 - asyl.net: M5258
https://www.asyl.net/rsdb/M5258
Leitsatz:

Verstoß gegen Art. 16a Abs. 1 GG durch Erwägungen zur Asylrelevanz von in der Türkei erlittenen Misshandlungen durch staatliche Stellen. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Dev Yol, Demonstrationen, Haft, Misshandlungen, Verfolgungsbegriff, Politmalus, Sachaufklärungspflicht
Normen: GG Art. 16a Abs. 1
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die fachgerichtliche Feststellung und Beurteilung des Charakters einer staatlichen Maßnahme als politische Verfolgung.

Das Verwaltungsgericht überschreitet den ihm nach Art. 16a Abs. 1 GG eingeräumten Wertungsrahmen, indem es die von der Beschwerdeführerin erlittenen, zunächst nicht näher beschriebenen Misshandlungen zwar unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für nicht mehr gerechtfertigt, aber asylrechtlich für unerheblich hält. Es hätte den politischen Charakter und damit die Asylrelevanz der Misshandlungen nicht verneinen dürfen, ohne zunächst darzulegen, von welchen konkreten Misshandlungen es im Fall der Beschwerdeführerin ausgeht, und welcher Art die allgemein üblichen, gegenüber allen Bewohnern der Türkei angewandten Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte sind. Da das Verwaltungsgericht hierzu entgegen der ihm obliegenden, vom Asylgrundrecht umfassten Sachaufklärungspflicht keine nachvollziehbaren Feststellungen getroffen hat, lässt sich die Asylrelevanz der fraglichen Maßnahmen nicht hinreichend verlässlich beurteilen.

Das Verwaltungsgericht durfte eine fehlende asylrechtliche Erheblichkeit der angegebenen Misshandlungen auch nicht darauf stützen, dass die Beschwerdeführerin eine unterschiedliche Behandlung von politisch Verfolgten und der übrigen Bevölkerung durch die Sicherheitskräfte nicht dargelegt habe. Die Darlegungs- und Mitwirkungspflicht des Asylbewerbers wäre überspannt, wenn man von ihm verlangte, eine derartige Differenzierung von sich aus darzutun.

Solange sich insoweit ein "Politmalus" nicht von vornherein ausschließen lässt, ist es Sache des Gerichts, den Sachverhalt, soweit ihm Entscheidungserheblichkeit zukommt, auch tatsächlich in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise aufzuklären (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Januar 1999 - 2 BvR 86/97 -, InfAuslR 1999, S. 273 278>). Dies hat das Verwaltungsgericht unterlassen. Es ist der Frage nach der asylrechtlichen Gerichtetheit der Maßnahmen nicht nachgegangen, obwohl es sich bei den von der Beschwerdeführerin angegebenen Misshandlungen im Hinblick auf ihre politische Betätigung um Akte politischer Verfolgung handeln kann. Dies gilt um so mehr, als selbst das Verwaltungsgericht die Beschwerdeführerin als eine "politisch motivierte Person" angesehen und die von ihr angegebene politische Verfolgung zumindest für den Zeitraum von (...) nicht in Abrede gestellt hat.

Die Verneinung politischer Verfolgung mangels Asylrelevanz der erfahrenen Behandlung wird Art. 16a Abs. 1 GG schließlich auch deshalb nicht gerecht, weil sich dem angegriffenen Urteil nicht entnehmen lässt, auf welche tatsächliche Grundlage das Verwaltungsgericht seine Einschätzung stützt, die Beschwerdeführerin habe keine weitergehenden Misshandlungen erlitten als es allgemein in der Türkei im Rahmen polizeilicher Ermittlungen oder bei der Verfolgung nicht politischer Straftaten üblich sei. Da es sich um eine dem Grundrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG entgegenstehende Feststellung handelt, hätte das Verwaltungsgericht angeben müssen, woher es seine Erkenntnisse bezieht.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf den dargelegten verfassungsrechtlichen Mängeln. Es ist demnach aufzuheben, ohne dass es auf die weiteren Rügen ankommt.