BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 08.04.2004 - 1 B 199.03 - asyl.net: M5272
https://www.asyl.net/rsdb/M5272
Leitsatz:

EMRK steht Abschiebung in einen Drittstaat nicht nur bei drohender unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung entgegen, sondern auch dann, wenn andere in der EMRK verbürgte Menschenrechte und Grundfreiheiten, von allen Vertragsstaaten als grundlegend anerkannte Menschenrechtsgarantien in ihrem Kern bedroht sind (insoweit Bestätigung von VGH Ba-Wü, Urteil vom 22.5.2003 - A 2 S 711/01 - ASYLMAGAZIN 7-8/2003, S. 48).(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Libanon, Revisionsverfahren, Nichtzulassungsbeschwerde, Grundsätzliche Bedeutung, Minderjährige, Kinder, Sorgerecht, Ordre public, Kindeswohl, Geschlechtsspezifische Diskriminierung, Schutz von Ehe und Familie, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Drittstaaten, Situation bei Rückkehr, Menschenrechtswidrige Behandlung, Abschiebungshindernis, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Bedrohung, Übergriffe, Rechtliches Gehör, Gehörsrüge, Hinweispflicht, Sachaufklärungspflicht, Überraschungsentscheidung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; AuslG § 53 Abs. 4; VwGO § 132
Auszüge:

Die Beschwerde hält im Rahmen des Begehrens auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zum Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob eine Regelung, die ohne konkrete Berücksichtigung des Kindeswohles das Sorgerecht über Kinder ab einer gewissen Altersstufe (hier sieben Jahre für Jungen und zehn Jahre für Mädchen) stets dem Vater - sofern dieser zur Ausübung der Sorge tatsächlich in der Lage ist - zuspricht, von der Schwere her einem Eingriff vergleichbar ist, der zu einer menschenunwürdigen Behandlung gemäß Art. 3 EMRK führt.

Die Beschwerde legt indes nicht dar, inwiefern diese vom Berufungsgericht verneinte Frage rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig ist.

Sie macht geltend, es liege ein vergleichbar schwerer Eingriff vor, weil diese Sorgerechtsregelung Art. 8 und Art. 14 EMRK verletze. Auf europäischer Ebene sei anerkannt, dass die Regelung des Sorgerechts nach dem Scheitern der Ehe an Art. 8 Abs. 2 EMRK zu messen sei. Danach seien aber nur Entscheidungen, die aufgrund einer genauen Abwägung des Kindeswohls ergingen, zu rechtfertigen. Der Verwaltungsgerichtshof habe selbst darauf hingewiesen, dass nach dem deutschen "ordre public" das Kindeswohl bei der Sorgerechtsentscheidung konkret berücksichtigt werden müsse. Die Sorgerechtsregelung verstoße auch gegen Art. 14 EMRK, weil sie eine geschlechtsspezifische Diskriminierung darstelle.

Dieses und das weitere Vorbringen der Beschwerde genügt nicht den Anforderungen an die Darlegung einer Grundsatzbedeutung. Die Beschwerde teilt schon nicht mit, auf welche Entscheidungen oder Praxis zu Art. 8 EMRK "auf europäischer Ebene" sie sich bezieht.

Auch die Beschwerde selbst setzt sich nicht damit auseinander, dass der Libanon als Drittstaat nicht den Bestimmungen der Konvention unterliegt und dass nicht jede Konventionsverletzung durch einen Drittstaat bereits ohne weiteres eine Abschiebung des davon betroffenen Ausländers in diesen Staat verbietet.

Die von der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des Anspruchs der Klägerinnen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) im Hinblick auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG ist dagegen begründet.

Die Klägerinnen haben im Berufungsverfahren vorgetragen, der 1996 in den Libanon abgeschobene geschiedene Ehemann der Klägerin zu 1 habe diese im (...) in ihrer Wohnung aufgesucht und ihr unter Gewaltanwendung massiv gedroht, ihr die Kinder wegzunehmen; im (...) sei er von den deutschen Behörden in ihrer Wohnung verhaftet worden. Die Klägerin zu 1 müsse deshalb befürchten, ihr Ehemann werde die Verhaftung mit ihr in Verbindung bringen und sich durch gewaltsame, dauerhafte Wegnahme der Kinder an ihr rächen. Dem wären sie, die Klägerinnen, im Libanon schutzlos ausgeliefert.

Das Berufungsgericht hat hierzu ausgeführt, vor dem Hintergrund, dass dem Ehemann der Klägerin zu 1 ohnehin das Sorgerecht für die Kinder zustehe, sei eine drohende Gewalttätigkeit wenig wahrscheinlich. Auch aus der Verhaftung des Ehemannes in der deutschen Wohnung der Klägerin zu 1 lasse sich die erforderliche konkrete und erhebliche Gefährdungssituation im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht ableiten. Es fehle insbesondere jeglicher Vortrag dahin gehend, die Klägerin zu 1 habe den deutschen Behörden - etwa durch telefonische Benachrichtigung - den Zugriff des Ehemannes in ihrer Wohnung ermöglicht.

Die Beschwerde rügt der Sache nach zu Recht, dass das Berufungsgericht das Fehlen eines entsprechenden Vortrags der Klägerinnen nicht ohne einen vorherigen Hinweis oder eine Nachfrage bei der zur mündlichen Verhandlung erschienenen Klägerin zu 1 zu ihren Ungunsten hätte bewerten dürfen. Zwar folgt aus dem Recht auf rechtliches Gehör keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts (vgl. BVerfGE 84, 188, 190). Auch in der Ausprägung, die dieses Recht in § 86 Abs. 3 VwGO gefunden hat, wird dem Gericht keine umfassende Erörterung aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte abverlangt. Insbesondere muss ein Gericht die Beteiligten grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (stRspr, vgl. etwa Beschluss vom 28. Dezember 1999 - BVerwG B 467.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 51). Stellt das Gericht aber an den Vortrag eines Beteiligten Anforderungen, mit denen auch ein verständiger Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Verlaufs des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte, ist es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung verpflichtet, einen entsprechenden Hinweis zu geben.