VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 17.06.2004 - 24 K 7466/02 - asyl.net: M5349
https://www.asyl.net/rsdb/M5349
Leitsatz:

Die Regel- und Ist-Ausweisung gem. § 47 AuslG ist auch auf EU-Freizügigkeitsberechtigte und türkische Arbeitnehmer anwendbar, wenn die gemeinschafts- bzw. assoziationsrechtlichen Vorgaben berücksichtigt werden; keine Änderung der Rechtsprechung auf Grund des Urteils des EuGH vom 29.4.2004 - C-482 und 493/01 (21 S., M5256).(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Türken, Assoziationsberechtigte, Freizügigkeit, Unionsbürger, Ausweisung, Ermessen, Stillhalteklausel, Straftäter, Vermögensdelikte, Freiheitsstrafe,Drogenabhängigkeit, Maßregelvollzug, Therapie, Ist-Ausweisung, Besonderer Ausweisungsschutz, Aufenthaltsberechtigung, Regelausweisung, Atypischer Ausnahmefall, Aufenthaltsdauer, Schutz von Ehe und Familie, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr, Beurteilungszeitpunkt, Zuständigkeit, Örtliche Zuständigkeit, Abschiebungsandrohung, Bestimmtheitsgebot, Fristen, Öffentlicher Gewahrsam, Abschiebungsanordnung
Normen: AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 1; AuslG § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; OBG NW § 12; OBG NW § 4 Abs. 1; VwVfG NW § 37 Abs. 1; ARB Nr. 1 /80 Art. 14 Abs. 1; ENA Art. 3 Abs. 3
Auszüge:

Die Klage ist nur hinsichtlich der Abschiebungsandrohung zulässig und begründet, im Übrigen hat sie keinen Erfolg.

Der Ausweisungsgrund ergibt sich vorliegend aus § 47 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 AuslG.

Diese Vorschrift ist nach Auffassung der Kammer dem Grunde nach auch in Fällen anwendbar, in denen der Betroffene Ausweisungsschutz als EU-Freizügigkeitsberechtigter oder - dies kommt hier in Betracht - nach Art. 14 Abs. 1 Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei (ARB) genießt. Denn weder die Vorschriften über die Freizügigkeit der EU-Bürger noch das Assoziationsrecht verlangen, dass der Ausländerbehörde bei der Entscheidung über die Ausweisung in diesen Fällen zwingend Ermessen eingeräumt sein muss, sodass eine Ausweisung nur nach §§ 45,46 AuslG - und nicht nach§ 47 AuslG - möglich wäre (vgl. -jeweils zur Regelausweisung - BVerwG, Beschluss vom 29. September 1993, 1 B 62/93, InfAuslR 1994, 45; OVG NW, Beschluss vom 02. April 2001, 18 A 1257/00, AuAS 2001, 149).

Vielmehr ist erforderlich, aber auch ausreichend, bei der Anwendung des § 47 AuslG die gemeinschafts- bzw. assoziationsrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen, wobei dies freilich zu einer Modifizierung und teilweisen Überlagerung der Vorschrift führt, vgl. im Einzelnen nachfolgend.

Nach Auffassung der Kammer lässt sich der Rechtsprechung des EuGH - einschließlich des jüngst ergangenen Urteils in den Sachen Orfanopoulos und Oliveri, Urteil vom 29. April 2004, Rs. C-482 und 493/01, nichts Gegenteiliges entnehmen: Die Rechtsprechung des EuGH zu den europarechtlichen Vorgaben für die Anforderungen des nationalen Rechts an die Ausweisung von EU-Freizügigkeitsberechtigten lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass sowohl die individuelle Gefährlichkeit als auch die der Ausweisung entgegenstehenden Interessen im Einzelfall geprüft und gegeneinander abgewogen werden müssen; wobei vor allem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - mit den Topoi: Art und Schwere der Tat, Dauer des Aufenthalts, Zeit seit der Tat und familiäre Situation - und die Grundrechte zu berücksichtigen sind (vgl.die Ausführungen im Urteil vom 29. April 2004, Rs. C-482 und 493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), Rn. 62ff. (71), 90ff. (93f., 100) und 95ff. (100) zur Ist- Ausweisung, zur Regelvermutung des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG und zur erforderlichen Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Grundrechte).

Danach sind generalpräventiv begründete Ausweisungen ebenso unzulässig, s. EuGH, Urteil vom 26. Februar 1975, Rs. 67/74 (Bonsignore), Rn. 5ff. (7), wie Ausweisungen, die automatisch aus strafgerichtlichen Verurteilungen wegen bestimmter Taten und/oder zu bestimmten Strafen folgen, ohne dass das Vorliegen hinreichender spezialpräventiver Gründe individuell geprüft, s. EuGH, Urteil vom 19. Januar 1999, Rs.C-348/96 (Calfa), Rn. 23 ff. (25, 27 ff.): das persönliche Verhalten müsse eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre (Rn. 25), und das Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung mit den berechtigen privaten Interessen des Betroffenen und ggf. seiner Familie abgewogen wird, s. EuGH, Urteil. vom 29. April 2004, Rs. C-482 und 493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), Rn. 95ff. (100).

Das ARB hat der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung stets in Anlehnung an die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ausgelegt und insbesondere auch entschieden, dass bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB vorgesehenen Ausnahme der öffentlichen Ordnung darauf abzustellen ist, wie die entsprechende Ausnahme im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Gemeinschaftsrechts ausgelegt wird, (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000, Rs. C-340/97 (Nazli), Rn. 55ff. m.N.) sodass die genannten Anforderungen grundsätzlich auch auf Ausländer Anwendung finden, die Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB genießen (im Folgenden: Assoziationsberechtigte, vgl. ausdrücklich für den Ausschluss generalpräventiver Gesichtspunkte EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000, Rs. C - 340/97 (Nazli), Rn. 50ff. 64>).

Aus der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH wie auch den zu Grunde liegenden Vorschriften lässt sich nicht entnehmen, dass die danach erforderliche individuelle Prüfung im Rahmen einer Ermessensentscheidung erfolgen muss. Wenn eine Vorschrift des nationalen Rechts die Ausweisung in Fällen konkret festgestellter individueller Gefährlichkeit und einem auch bei Berücksichtigung von Verhältnismäßigkeit und Grundrechten überwiegenden öffentlichen Interesse an der Gefahrenabwehr zwingend oder als Regelfolge vorschreibt, so ist nicht ersichtlich, warum Gemeinschafts- oder Assoziationrecht dem entgegenstehen sollte. Denn dessen inhaltliche Vorgaben sind dann erfüllt. Die deutschen Vorschriften über die Ist-, Regel- und Kann-Ausweisung sind daher auch auf EU-Freizügigkeits- und Assoziationsberechtige anwendbar, wenn die erforderliche individuelle Prüfung erfolgt.

Auch aus dem jüngst ergangenen Urteil des EuGH in den Sachen Orfanopoulos und Oliveri ergibt sich nach Auffassung der Kammer insoweit nichts anderes. Der EuGH hat zur deutschen Ist- Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG zwar ausgesprochen, dass Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer solchen Vorschrift auf EU-Freizügigkeitsberechtigte entgegensteht. Er hat dabei aber offensichtlich vorausgesetzt, dass die Vorschrift auch für EU-Freizügigkeitsberechtigte angewandt wird, ohne dass das Vorliegen spezialpräventiver Gründe individuell geprüft wird. Das Erfordernis einer solchen Prüfung ist im deutschen Recht jedoch ausdrücklich festgeschrieben (§§ 2 Abs. 2 AuslG, 12 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 AufenthG/EWG).

Schließlich folgt auch nicht aus den Stand-Still-Klauseln des Assoziationsrechts, dass eine Ausweisung des Klägers, wie nach dem Ausländergesetz 1965, nur nach Ermessen erfolgen dürfte. Die Stand-Still-Klausel nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen betrifft nur Beschränkungen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, nicht Beschränkungen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Insoweit ist Art. 13 ARB einschlägig, der jedoch, wie der gesamte Abschnitt 1 des ARB (Art. 6ff.), unter dem Vorbehalt des Art. 14 Abs. 1 ARB steht. Daher sind Ausweisungen Assoziationsberechtigter auch nach den Vorschriften über die Ist- und die Regelausweisung zulässig, wenn dabei die assoziationsrechtlichen Vorgaben beachtet werden (vgl. OVG NW, Beschluss vom 29. Januar 2001,18 B 116/01, AuAS 2001, 137; Urteil vom 13. Juni 2001, 17 A 5552/00, InfAuslR 2001, 424; st. Rspr).

Bei Anwendbarkeit der Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG lägen unabhängig von dem zu gewichtenden Einzelfall bei der hier gegebenen Verwirklichung eines Ist-Ausweisungstatbestandes (§ 47 Abs. 1 AuslG) schwer wiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel vor.

Diese Vorschrift findet vorliegend allerdings keine Anwendung. Der EuGH hat zu § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG entschieden, dass für EU-Freizügigkeitsberechtigte keine Regelung angewandt werden darf, die eine Vermutung für die Ausweisung aufstellt, ohne dass das persönliche Verhalten des Betroffenen oder die Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt werden (EuGH, Urteil vom 29. April 20.0.4, Rs. C-482 und 493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), Rn. 90ff. 93f.>).

Demnach muss bei EU-Freizügigkeitsberechtigten die Prüfung, ob hinreichende spezialpräventive Gründe für eine Ausweisung vorliegen, ohne Anwendung der Regelvermutung des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG erfolgen. Ob dies auch für Ausländer gilt, denen Ausweisungsschutz nach Art. 14. Abs. 1 ARB zugute kommt, hat der EuGH bisher zwar nicht ausdrücklich entschieden. Für eine solche Übertragung spricht aber die oben bereits erwähnte Auslegung des ARB in Anlehnung an die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, insbesondere auch gerade zum Punkt der Erforderlichkeit des tatsächlichen Vorliegens einer individuellen Wiederholungsgefahr (EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000, Rs. C-340/97 (Nazli), Rn. 50ff. <(64>).

Hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr hat der EuGH entschieden, dass bei EU-Freizügigkeitsberechtigten auch nach der letzten Behördenentscheidung eingetretene Tatsachen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, zu berücksichtigen sind (Urteil vom 29. April 2004, Rs. C-482 und 493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), Rn. 77ff. 82>).

Ob daraus zu folgern sein wird, deshalb sei bei der Ausweisung von EU-Freizügigkeitsberechtigten entgegen der systematisch im deutschen Verwaltungsprozessrecht an sich üblichen Maßgeblichkeit der letzter Behördenentscheidung auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Gerichts abzustellen, kann hier dahinstehen.

Denn jedenfalls wäre dies nach Auffassung der Kammer auf Assoziationsberechtigte angesichts der strukturellen Unterschiede in der Konstruktion der Aufenthaltsrechte beider Gruppen nicht übertragbar. Deshalb verbleibt es zumindest für Assoziationsberechtigte bei dem nach nationalem Recht geltenden Grundsatz, dass maßgeblicher Zeitpunkt der der letzten behördlichen Entscheidung ist, d.h. der des Erlasses des Widerspruchsbescheids (BVerwG, Beschluss vom 17. November 1994,1 B 224/94, InfAuslR 1995, 150 m.w.N.; Urteil vom 29. September 1998, 1 C 8/96, InfAuslR 1999, 54, unter 2. a) der Entscheidungsgründe).

Denn sachlicher Grund für die Verlagerung des maßgeblichen Zeitpunkts auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Falle der Ausweisung von EU-Freizügigkeitsberechtigten kann nur der besondere Status von EU-Bürgern sein, der anderen Ausländern nicht zukommt.

Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung ist die Klage zulässig und begründet.

Die Androhung verstößt hier gegen das Bestimmtheitsgebot, § 37 Abs. 1 VwVfG NW. Denn auch durch Auslegung lässt sich nicht ermitteln, wann die in der Abschiebungsandrohung gesetzte Ausreisefrist in Lauf gesetzt werden soll. Der Wortlaut "innerhalb von 2 Wochen nach Ihrer Haftentlassung" könnte zunächst dahingehend verstanden werden, dass die Frist bereits mit der - freilich vor Erlass der Ordnungsverfügung erfolgten - Überstellung des Klägers aus der Strafhaft in den Maßregelvollzug begonnen haben könnte, weil er sich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in Strafhaft befand. Er könnte aber auch so ausgelegt werden, dass mit der "Haftentlassung" trotz des Wortlauts die Entlassung aus dem Maßregelvollzug gemeint sein sollte, wobei dies wiederum so verstanden werden könnte, dass dabei auf den Zeitpunkt abzustellen wäre, ab dem der Kläger nicht mehr in der Klinik, sondern extern bei seinen Eltern wohnte, oder auf den, zu dem gerichtlich die Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Maßregel und des Strafrestes zur Bewährung angeordnet wird. Diese vermeidbaren Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde.