OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 22.07.2004 - A 4 B 614/03 - asyl.net: M5395
https://www.asyl.net/rsdb/M5395
Leitsatz:

Die Frage der Erreichbarkeit der autonomen Kurdengebiete des Nordirak als inländische Fluchtalternative ist aufgrund des Einmarsches der Truppen der USA nicht mehr entscheidungserheblich; Diese grundlegende Veränderung darf wegen ihrer umfassenden Behandlung in der Presse als allgemein kundige Tatsache vom Senat auch ohne Einführung entsprechender Erkenntnismittel im vorliegenden Antragsverfahren berücksichtigt werden. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Divergenzrüge, Irak, Kurden, Nordirak, Interne Fluchtalternative, Reisewege, Politische Entwicklung, Machtwechsel, Verfahrensmangel, Urteilsbegründung, Absetzung des Urteils, Absetzungsfrist, Fünf-Monats-Frist, Begründungsmangel, Begründungserfordernis
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 6
Auszüge:

Für eine Divergenzzulassung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG ist erforderlich, dass der Beantwortung der Rechtsfrage oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachenfrage, hinsichtlich derer die Divergenz besteht, im Berufungsverfahren voraussichtlich entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt. Dieses Erfordernis der konkreten Entscheidungserheblichkeit folgt aus dem Zweck des Zulassungstatbestandes gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG, der darin besteht, die Rechtseinheit zu gewährleisten. Dieser Zweck kann nicht mehr erfüllt werden, wenn es auf die Beantwortung der die Divergenz begründenden Frage für den Ausgang des Berufungsverfahrens nicht ankommt. Insoweit gilt Gleiches wie für der Zulassungstatbestand der grundsätzlichen Bedeutung, gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG, dessen Unterfall die Divergenzzulassung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG darstellt. Diese scheidet demnach aus, wenn der von Bundes- oder Obergericht aufgestellte Rechtssatz dem das Verwaltungsgericht widersprochen hat, überholt ist (BVerwG, Beschl. v. 2.3.1976, Buchholz 421.0 Nr. 72). Gleiches muss gelten, wenn eine zunächst Divergenz begründende Tatsachenfrage aufgrund einer Änderung der politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag ihre entscheidungserhebliche Bedeutung für die Beurteilung des Asyl- und Abschiebungsschutzbegehrens offensichtlich verloren hat.

So liegt der Fall hier: Die vom Kläger aufgeworfene Frage zur Erreichbarkeit der autonomen Kurdengebiete des Nordirak als inländische Fluchtalternative ist nicht mehr entscheidungserheblich. Denn aufgrund des Einmarsches der Truppen der USA und ihrer Verbündeten in den Irak hat das Regime von Saddam Hussein die politische und militärische Herrschaft über den Zentralirak verloren. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass dieses Regime jemals wieder an die Macht kommt. Diese grundlegende Veränderung darf wegen ihrer umfassenden Behandlung in der Presse als allgemein kundige Tatsache vom Senat auch ohne Einführung entsprechender Erkenntnismittel im vorliegenden Antragsverfahren berücksichtigt werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.1981, InfAuslR 1982, 349). Sie hat dazu geführt, dass die vom Verwaltungsgericht angenommene Gefahr politischer Verfolgung des Beigeladenen durch das Regime von Saddam Hussein offensichtlich entfallen ist und sich damit auch die Prüfung der Frage erübrigt, ob eine inländische Fluchtalternative im Norden des Irak besteht und erreichbar ist.

Schließlich führt auch der Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 6 VwGO nicht zur Zulassung der Berufung. Nach dieser Vorschrift ist die Berufung zuzulassen, wenn die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht mit Gründen versehen ist.

Der Kläger rügt zunächst, es sei "nicht erkennbar, dass die Entscheidung innerhalb einer Frist von fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden wäre". Dem gänzlichen Fehlen von Gründen sind auch "Gründe" gleichzuachten, die entgegen § 117 Abs. 4 VwGO so spät abgefasst wurden, dass nicht mehr gewährleistet ist, dass die angegebenen Gründe die Gründe vollständig und zuverlässig wiedergeben, die für die Entscheidung im Sinne von § 108 Abs. 1 VwGO maßgeblich waren. Als in diesem Sinne verspätet und daher nicht mit Gründen versehen ist ein Urteil immer schon dann anzusehen, wenn Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung nicht gemäß § 117 Abs. 5 VwGO binnen 5 Monate nach Abschluss der mündlichen Verhandlung schriftlich niedergelegt, besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Die Rüge einer verspäteten Übergabe oder Absetzung des Urteils ist nur dann ordnungsgemäß erhoben, wenn in dem Antrag auf Zulassung der Berufung die Einzeltatsachen angegeben werden, aus denen sich der behauptete Verfahrensfehler ergibt. Soweit es sich dabei um gerichtsinterne Vorgänge handelt, müssen diese entweder im einzelnen aufgezeigt werden oder es muss in der Antragsbegründung dargelegt sein, dass der Antragsteller sich vergeblich um die Aufklärung der entsprechenden Tatsachen bemüht hat (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.5.1999 - 11 B 37/98 - zitiert nach JURIS; Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 138 RdNr. 143).

Daran fehlt es hier. Die Beklagte hat die "vorsorglich" erhobene Verfahrensrüge nicht unter Angabe der - nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - erforderlichen Tatsachen erhoben und den geltend gemachten Verfahrensfehler damit nicht dargelegt. Zudem liegt ein Verfahrensfehler im Sinne des 138 Nr. 6 VwGO auch nicht vor. Zwar ist der Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht seiner sich aus § 117 Abs. 4 VwGO folgenden richterlichen Verpflichtung zur alsbaldigen vollständigen Abfassung und Übergabe des Urteils an die Geschäftsstelle nicht nachgekommen. Das Urteil ist jedoch - ausweislich des Vermerks der Geschäftsstelle - am 24.7.2003 und damit gerade noch innerhalb der Frist von 5 Monaten erhalten hat, die Beurkundungsfunktion des Urteils im Einzelfall gleichwohl nicht gewahrt sein kann und damit ein Verfahrensfehler gemäß § 238 Nr. 6 VwGO vorliegt. In einem solchen Fall müssen jedoch - anders als nach Verstreichen der Fünfmonatsfrist - außer dem bloßen Zeitablauf zwischen Schluss der mündlichen Verhandlung und Übergabe der Entscheidungsgründe an die Geschäftsstelle konkrete Umstände darauf hindeuten, dass in dem Urteil nicht die Gründe vollständig und zuverlässig wiedergegeben werden, die für die Entscheidung maßgeblich waren. Dies muss zudem mit der Rüge vorgetragen werden (BVerwG, Beschl. v. 7.5.1999 - 7 B 77/99 - zitiert nach JURIS; Eichberger, a.a.O. § 138 RdNr. 157). Daran fehlt es hier.