VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.04.2004 - A 2 S 172/02 - asyl.net: M5415
https://www.asyl.net/rsdb/M5415
Leitsatz:

1. Tatsachen, die nach grundlegender Änderung der Verfolgungslage ihre Bedeutung - auch für Altfälle - verloren haben, sind nicht mehr klärungsbedürftig.

2. Eine (nachträgliche) Divergenz in Bezug auf solche Tatsachen kann nicht (mehr) zur Zulassung der Berufung führen.

3. Politische Verfolgung im Irak, die an die Machtausübung des Regimes Saddam Husseins anknüpft, ist in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen.

4. Die Gefahr politischer Verfolgung wegen Stellung eines Asylantrags und illegaler Ausreise aus dem Irak besteht daher nicht mehr.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Soziale Bindungen, Politische Entwicklung, Machtwechsel, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Änderung der Sachlage, Divergenzrüge, nachträgliche Divergenz, Nachfluchtgründe, Illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AsylVfG § 77 Abs. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2
Auszüge:

Die politische Situation im Irak hat sich - wie auf Grund der umfangreichen und detaillierten Presseberichterstattung allgemeinkundig ist - durch den am 20.3.2003 begonnenen und am 2.5.2003 weitgehend beendeten 3. Golfkrieg grundlegend verändert. Das bis zu diesem Zeitpunkt herrschende Regime Saddam Husseins besteht nicht mehr fort. Anhaltspunkte für eine Wiedererlangung der Macht durch dieses Regime gibt es nicht (vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.8.2003 - 20 A 430/02.A - und Urteil vom 18.11.2003 - 9 A 4107 /99.A -; SächsOVG , Beschluss vom 28.8.2003 - A 4 B 573/02 -; NdsOVG , Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -; BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -; HessVGH, Beschluss vom 21.11.2003 - 10 UZ 984/03.A -; VG Stade vom 22.9.2003 - 6 A 1963/02 -; VG Magdeburg vom 30.10.2003 - 4 A 142/02 MD -; VG Leipzig, Urteil vom 7.1.2004 - A 6 K 30201/02 -).

Unabhängig davon, ob eine Gesamtwürdigung der derzeit von Kämpfen radikaler Schiiten gegen die Besatzer geprägten Verhältnisse im Irak die Annahme der Herausbildung einer irakischen Staatsgewalt als Grundvoraussetzung für eine mögliche politische Verfolgung in nächster Zeit erlaubt, ist jedenfalls davon auszugehen, dass eine neue politische Führung des Landes die Politik des Regimes Saddam Husseins nicht fortführen wird, so dass Verfolgungshandlungen, die an das Vorgängerregime anknüpfen, hinreichend sicher auszuschließen sind.

Die etwaige Schutzunfähigkeit eines künftig neu entstehenden Staates oder einer quasi-staatlichen Macht allein könnte im Übrigen schon nicht die Gefahr politischer Verfolgung begründen. Eine derartige Annahme würde die Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen Dritter voraussetzen, die ihrerseits politischen Charakter im Rechtssinne aufwiesen (BVerwG, Urteil vom 2.8.1983, Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG, Nr.12). Dass Derartiges den zur Zeit stattfindenden Attentaten und Übergriffen anhaftet, ist nicht ersichtlich.

Auch soweit die Besatzungsmächte im Irak Herrschaftsgewalt ausüben, fehlen jegliche Anhaltspunkte dafür, dass sie irakische Staatsangehörige, die angeben, von Saddam Husseins Regime politisch verfolgt gewesen zu sein oder derartige Verfolgung bei Rückkehr wegen Stellung eines Asylantrages und illegaler Ausreise befürchten zu müssen, mit hieran anknüpfenden oder anderen politischen Verfolgungsmaßnahmen überziehen werden. Derartige früher gefahrbegründende Vorgänge haben ihre Bedeutung verloren, weil ihr damals gefährdender Charakter entscheidend auf dem Unrechtsregime Saddam Husseins beruhte.