VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.05.2004 - 11 S 1080/04 - asyl.net: M5496
https://www.asyl.net/rsdb/M5496
Leitsatz:

Die Feststellung, dass ein Ausländer faktisch zum Inländer geworden ist, bedeutet auch nach der Rechtsprechung des EGMR noch nicht, dass eine Ausweisung nicht in Betracht kommt. Vielmehr hängt die Zulässigkeit der Ausweisung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nach Art. 8 Abs. 2 EMRK auch dann von den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalles ab.(Amtlicher Leitsatz)

 

Schlagwörter: D (A), Türken, Ausweisung, Straftäter, Heranwachsende, Jugendstrafe, Freiheitsstrafe, Ist-Ausweisung, Regelausweisung, Aufenthaltsdauer, Integration, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Schutz von Ehe und Familie, Ermessen, Atypischer Ausnahmefall, Berufungszulassungsantrag, Ernstliche Zweifel, Grundsätzliche Bedeutung, Verfahrensmangel, Sachaufklärungspflicht, Beweisantrag, Beweiserhebung, Beweisanregung
Normen: AuslG § 48 Abs. 2 S. 2; AuslG § 47 Abs. 3 S. 1; EMRK Art. 8 Abs. 2; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; VwGO § 123 Abs. 2 Nr. 3; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 5; VwGO § 86 Abs. 1 S. 2
Auszüge:

Die Feststellung, dass ein Ausländer faktisch zum Inländer geworden ist, bedeutet auch nach der Rechtsprechung des EGMR noch nicht, dass eine Ausweisung nicht in Betracht kommt. Vielmehr hängt die Zulässigkeit der Ausweisung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nach Art. 8 Abs. 2 EMRK auch dann von den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab.

Die Prüfung aber, ob beim Kläger die Voraussetzungen eines Ausnahmefalles vorliegen, hat das Verwaltungsgericht - wie auch der Kläger nicht verkennt - sowohl unter dem Gesichtspunkt des § 47 Abs. 3 AuslG, wie auch unter dem Aspekt des im Prüfprogramm davon zu unterscheidenden § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 2.7.2001 - 13 S 2326/99 -, VBlBW 2002, 34 = InfAuslR 2002, 72) vorgenommen und das Vorliegen der Voraussetzungen mit zutreffenden Erwägungen verneint. Dabei hat das Gericht sowohl den langjährigen Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet als auch den Umstand, dass er hier aufgewachsen ist, und schließlich auch die Beziehung zu seinem Stiefvater, der deutscher Staatsangehöriger ist, gesehen und berücksichtigt. Dass es sich bei diesen Tatsachen - wie auch beim Schulbesuch und beim Hauptschulabschluss - um Besonderheiten handelt, die einen atypischen Ausnahmefall begründen sollen, hat der Kläger nicht hinreichend begründet. Die genannten Merkmale sind bereits in den gesetzlichen Regelungen des Ausländergesetzes über die Ausweisung enthalten - vgl. bspw. § 45 Abs. 2 Nr. 1, § 47 Abs. 3 Satz 3 und 4, § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 und Nr. 4, § 48 Abs. 2 AuslG - und werden unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen bei der Entscheidung über die Ausweisung berücksichtigt. Sie begründen daher grundsätzlich keinen - vom Gesetz nicht ausdrücklich geregelten - atypischen Ausnahmefall. Ob die vom Kläger bis zum 10. Lebensjahr gehegte Überzeugung, er sei deutscher Staatsangehöriger, da er seinen deutschen Stiefvater für seinen leiblichen Vater gehalten habe, mangelhaften oder ganz fehlenden Türkischkenntnisse und seine fehlende Vertrautheit mit den türkischen Lebensverhältnissen Umstände sind, die die Abweichung von der Regelausweisung rechtfertigen würden, erscheint ebenfalls zweifelhaft, kann aber letztlich offen bleiben. Denn auch wenn man dies im Sinne des Zulassungsantrags bejahen würde, wäre die Ausländerbehörde gleichwohl berechtigt, hilfsweise im Ermessensweg über die Ausweisung zu entscheiden, was das Regierungspräsidium Karlsruhe vorliegend in übrigens auch vom Kläger nicht ausdrücklich als ermessensfehlerhaft gerügter Weise getan hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.11.1996 -1 C 25.94 -, InfAuslR 1997, 152).

Ernstliche Zweifel bestehen auch nicht deshalb, weil das Verwaltungsgericht die genannten Umstände unter dem Aspekt des Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht zutreffend gewürdigt hätte. Dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Hinblick, auf die Folgen für den Ausländer selbst widersprechen, wenn durch behördliche Maßnahmen die Voraussetzungen für sein weiteres Zusammenleben mit seiner im Vertragsstaat ansässigen Familie beseitigt werden (vgl. insbes. EGMR, Urteil vom 26.3.1992 - 55/1990/246/317 - <Beldjoudi>, InfAuslR 1994, 86; Urteil vom 26.9.1997 - l 85/1996/704/896 - <Mehemi>, NVwZ 1998, 154 = InfAuslR 1997, 430; Entscheidung vom 4.10.2001 - 43359/98 - <Adam>, NJW 2003, 2595; Urteil vom 31.10.2002 - <Yildiz>, InfAuslR 2003, 126). Eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kommt danach etwa bei Ausländern in Betracht, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer, Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist (vgl. auch BVerwG, Urteil v. 29.9.1998 - 1 C 8.96 - NVwZ 1999; 303 = InfAuslR 1999, 54).

Es bestehen Zweifel, ob der Kläger - wie er meint - faktisch Inländer in diesem Sinn geworden ist. Zwar kann unterstellt werden, dass er aufgrund der bei ihm gegebenen Umständen - in der Bundesrepublik Deutschland geboren, mit deutschem Stiefvater aufgwachsen, zuhause nur deutsch gesprochen, kaum Aufenthalt in der Türkei nur geringe oder gar keine Beziehung zur Türkei hat und dass er bei einer Rückkehr dorthin zunächst seine eventuell nur geringen türkischen Sprachkenntnisse verbessern müsste. Ob damit aber bereits alle über die Staatsangehörigkeit hinaus gehenden sozialen und soziokulturellen Beziehungen zum Staat seiner Staatsangehörigkeit fehlen (vgl. Senatsurteil vom 10.9.2003 - 11 S 973/03 -, EZAR 037 Nr. 8), dürfte schon deshalb fraglich sein, weil der Kläger offenbar noch Angehörige aus der engeren Familie im Bundesgebiet hat, die nicht deutsch sprechen (Großmutter) bzw. zwar deutsch sprechen, aber trotz jahrzehntelangen Aufenthalts und hinreichender Integration an der türkischen Staatsangehörigkeit festgehalten haben (Mutter) und weil auch keine Bemühungen zur Einbürgerung - aus der Zeit vor seiner Straffälligkeit - bekannt sind (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 11.10.2000 - 11 S 1206/00 -, InfAuslR 2001, 119 = VBlBW 2001, 196).

Letztlich kann dies aber deshalb dahin stehen, weil Art. 8 Abs. 2 EMRK einer Ausweisung auch dann nicht entgegenstünde, wenn der Kläger als faktischer Inländer zu betrachten wäre, denn sein Fall weist dennoch nicht die erforderlichen Besonderheiten auf, die ein Leben in der Türkei für ihn trotz der gegebenen Ausweisungsvoraussetzungen unzumutbar machen. Nach der vom Verwaltungsgericht zutreffend seiner Entscheidung zugrunde gelegten Rechtsprechung des Senats sind Korrekturen einer nach nationalen Vorschriften rechtmäßigen Ausweisung wegen Unverhältnismäßigkeit nach dem Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK nur in außergewöhnlichen Einzelfällen denkbar, die entweder hinsichtlich des (gesteigerten) Gewichts der Schutzgüter (Privat- und Familienleben) oder hinsichtlich der (geminderten) Bedeutung der öffentlichen Ausweisungsziele (insbesondere öffentliche Sicherheit, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) signifikante Besonderheiten aufweisen (vgl. Senatsurteil vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -, VBlBW 2003, 289 = EZAR 034 Nr. 14). Auch nach der Rechtsprechung des EGMR bedeutet die Feststellung, dass ein Ausländer faktisch zum Inländer geworden ist, noch nicht, dass eine Ausweisung nicht in Betracht kommt. Vielmehr hängt die Zulässigkeit der Ausweisung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nach Art. 8 Abs. 2 EMRK von den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab. Als solche Umstände gelten insbesondere (vgl. im Einzelnen BVerfG, Beschluss vom 1.3.2004 - 2 BvR 1570/03): die Schwere der Straftaten, die in erster Linie durch die Höhe der Strafen gekennzeichnet wird (vgl. EGMR, Urteil vom 26.9.1997 <Mehemi>, aaO.; Urteil vom 21.10.1997 - 122/1996/741/940 - <Boujlifa>, InfAuslR; 1998, 1; Entscheidung vom 4.10.2001 <Adam>, aaO.; Urteil vom 31.10.2002 <Yildiz>, aaO.); die Art der Straftat (vgl. Urteil vom 26.9.1997 - 123/1996/742/941 - <El Boujaidi>, zitiert in der Zusammenfassung durch Zander, InfAuslR 1997, 433; Urteil vom 26.9.1997 <Mehemi>, aaO.; Urteil vom 30.11.1999 - 34374/97 - <Baghli>, NVwZ 2000, 1401 = InfAuslR 2000, 53); das Alter des Betroffenen bei der Begehung der Straftat (vgl. Urteil vom 18.2.1991 - 31/1989/191/291 - <Moustaquim>, InfAuslR 1991, 149; Urteil vom 29.1.1997 - 112/1995/618/708 - <Bouchelkia>, zitiert in der Zusammenfassung durch Zander, InfAuslR 1997, 432; Entscheidung vom 4.10.2001 <Adam>, aaO.); die familiäre Situation (vgl. Urteil vom 31.10.2002 <Yildiz>, aaO.), insbesondere, ob der Ausländer - mit einer deutschen Staatsangehörigen - verheiratet ist oder ob er Kinder - mit deutscher Staatsangehörigkeit - hat (vgl. Urteil vom 26.3.1992 <Beldjoudi>, aaO.; Urteil vom 26.9.1997 <Mehemi>, aaO.; Urteil vom 30.11.1999 <Baghli>, aaO.; Entscheidung vom 4.10.2001 <Adam>, aaO.;), bzw. ob er auf die Unterstützung und Hilfe von im Inland lebenden Eltern und Geschwistern angewiesen ist (vgl. Urteil vom 13.7.1995 - 18/1994/465/564 - <Nasri>, InfAuslR 1996, 1); der Bezug des Ausländers zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, wobei den Sprachkenntnissen im Hinblick auf die Zumutbarkeit einer Integration in die dortigen Lebensverhältnisse eine gewisse, aber nicht in jedem Fall ausschlaggebende Bedeutung zukommt (vgl. Urteil vom 26.3.1992 <Beldjoudi>, aaO.; Urteil vom 30.11.1999 <Baghli>, aaO.; Entscheidung vom 4.10.2001 <Adam>, aaO.; insbesondere aber Urteil vom 21.10.1997 <Boujlifa>, aaO.); und schließlich, ob der Ausländer die Staatsangehörigkeit seines Herkunftslandes behalten und nicht die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltslandes erwerben wollte (vgl. Urteil vom 26.3.1992, <Beldjoudi>, aaO.; Urteil vom 29.1.1997 <Bouchelkia>, aaO.; Urteil vom 26.9.1997 <El Boujaidi>, aaO.; Urteil vom 21.10.1997 <Boujlifa>, aaO.; Urteil vom 30.11.1999 <Baghli>, aaO.).

Die danach im Fall des Klägers zu berücksichtigenden Umstände machen seine Ausweisung nicht unverhältnismäßig. Der Kläger ist unverheiratet und kinderlos. Es gibt nach Aktenlage keine Anhaltspunkte dafür, dass er auf die familiäre Unterstützung durch seine Mutter oder seinen jüngeren Bruder angewiesen ist. Zwar beging er die Straftaten zum Teil noch während er minderjährig war; auch ist seinem Vortrag zu entnehmen, dass er nur geringe soziokulturelle Beziehungen zur Türkei hat, insbesondere nur "ziemlich schlechte" türkische Sprachkenntnisse. Dem steht jedoch die Schwere der vom Kläger begangenen Vergehen gegenüber, die - wie ausgeführt - ein wesentliches - und im Fall des Klägers auch ausschlaggebendes - Element für die Bestimmung der Proportionalität des Eingriffs nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist (vgl. EGMR, Urteil vom 31.10.2002, <Yildiz>, aaO.; BVerfG, Beschluss vom 1.3.2004, aaO.). Die Schwere der Straftaten kommt dabei bereits in dem vom Strafgericht verhängten Strafmaß von 4 Jahren Jugendstrafe zum Ausdruck. Schon deshalb verbietet es sich, von - so der Zulassungsantrag - "jugendtypischen Verfehlungen" zu sprechen.

Schließlich gibt es auch keinen Anlass, in der unterlassenen Anhörung der Mutter des Klägers deshalb einen Verfahrensmangel zu sehen, auf dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruhen könnte (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO), weil das Verwaltungsgericht dadurch gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht verstoßen hätte (vgl. § 86 Abs. 1 VwGO). Ein Gericht verstößt grundsätzlich nicht gegen seine Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die eine von einem Rechtsanwalt vertretene Partei nicht ausdrücklich beantragt hat (vgl. VGH Bad.-Württ. Beschluss vom 30.04.1997 - 8 S 1040/97 -, VBlBW 1997, 299 im Anschluss an die ständige Rspr. des BVerwG, vgl. u.a. Beschluss vom 26.6.1975 - VI B 4.75 -, Buchholz 232 § 26 BBG Nr. 17). Der Prozessbevollmächtigte des Klägers, der den Kläger bereits vor dem Verwaltungsgericht vertreten hat, hat ausweislich des Sitzungsprotokolls einen auf die Vernehmung der Mutter des Klägers zielenden Beweisantrag nicht gestellt. Sein schriftsätzlich formulierter Beweisantrag ist als Anregung zur Beweiserhebung für das Gericht nicht bindend (vgl. § 86 Abs. 1 S. 2 VwGO). Die Beweiserhebung musste sich dem Verwaltungsgericht auch nicht aufdrängen. Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, wäre das Verwaltungsgericht voraussichtlich auch dann, wenn es die Mutter des Klägers angehört hätte, zu keiner anderen Entscheidung gekommen.