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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 16.06.2004 - 1 C 20.03 - asyl.net: M5509
https://www.asyl.net/rsdb/M5509
Leitsatz:

Die seit Juni 2000 geltende Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG, die für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht ausländischer Ehegatten nicht mehr eine vierjährige, sondern nur noch eine zweijährige Bestandsdauer der ehelichen Lebensgemeinschaft voraussetzt, ist auf Verlängerungsanträge, die bei In-Kraft-Treten der Neuregelung noch nicht bestandskräftig beschieden worden sind, auch dann anzuwenden, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft bereits vor diesem Zeitpunkt geendet hat.(Amtlicher Leitsatz)

 

Schlagwörter: D (A), Türken, Aufenthaltserlaubnis, Deutschverheiratung, Ehescheidung, Eigenständiges Aufenthaltsrecht, Ehebestandszeit, Gesetzesänderung, Altfälle, Beurteilungszeitpunkt, Auslegung, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Rückwirkung
Normen: AuslG § 23 Abs. 3; AuslG § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AuslG § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; AuslG § 19 Abs. 2
Auszüge:

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die für den Kläger günstigere, seit dem 1. Juni 2000 geltende Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG anzuwenden (BGBI I S. 742). Danach wird die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges, von dem in § 17 Abs. 1 AuslG bezeichneten Aufenthaltszweck unabhängiges Aufenthaltsrecht verlängert, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat und der deutsche Ehegatte bis zum Eintritt dieser Voraussetzung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte (vgl. § 23 Abs. 3 AuslG). Zur Erlangung eines eigenständigen, eheunabhängigen Aufenthaltsrechts ist damit nicht mehr wie bisher eine vierjährige, sondern lediglich eine zweijährige Bestandsdauer der ehelichen Lebensgemeinschaft erforderlich. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen der Neufassung. Denn nach den bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts hat der Kläger mit seiner (ersten) deutschen Ehefrau keine vier Jahre, aber doch länger als zwei Jahre in ehelicher Gemeinschaft zusammengelebt.

Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich insoweit auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz abzustellen, als es um die Frage geht, ob schon aus Rechtsgründen eine Erlaubnis erteilt oder versagt werden muss (vgl. Urteil vom 22. Januar 2002 - BVerwG 1 C 6.01 - BVerwGE 115, 352 354> = Buchholz 402.240 § 24 AuslG Nr. 4 m.w.N.). Danach ist hier der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht im Mai 2003 maßgeblich, zu dem die Neufassung des § 19 AuslG bereits seit nahezu drei Jahren in Kraft war (vgl. zu einer vergleichbaren Problematik bei § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AuslG Urteil des Senats vom 27. Januar 1998 - BVerwG 1 C 28.96 - Buchholz 402.240 § 19 AuslG 1990 Nr. 4).

Dem Regelungsgehalt des § 19 AuslG oder anderer Vorschriften des im Mai 2000 geänderten Ausländergesetzes ist nicht zu entnehmen, dass im Hinblick auf "Altfälle" wie den des Klägers, in denen die Ehe bereits vor In-Kraft-Treten der Neufassung gescheitert war, von einem früheren Zeitpunkt auszugehen ist. So fehlt insbesondere eine Übergangsvorschrift, die derartige "Altfälle" von der Neuregelung ausnimmt. Auch der Wortlaut des neu gefassten § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG, in dem lediglich das Wort "vier" (Jahre) durch das Wort "zwei" (Jahre) ersetzt worden ist, deutet nicht darauf hin, dass die Neuregelung Verlängerungsverfahren, die bei ihrem In-Kraft-Treten im Juni 2000 noch anhängig gewesen sind, nicht hat erfassen wollen.

Die Entstehungsgeschichte und die Begründung des Änderungsgesetzes lassen ebenfalls nicht erkennen, dass die Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG auf solche noch anhängigen "Altfälle" keine Anwendung finden soll.

Schließlich gebietet auch die Gesetzessystematik nicht, "Altfälle" wie den des Klägers von der Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG auszunehmen.

Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass die seit dem 1. Juni 2000 geltende Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG keine Veranlassung gibt, Verfahren, die bei In-Kraft-Treten der Neuregelung bereits unanfechtbar abgeschlossen waren, wieder aufzugreifen. Nach ihrem zeitlichen Geltungswillen erstreckt sich die Neuregelung nicht auf diese Verfahren. Sie gilt nicht rückwirkend und stellt auch keine nachträgliche Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar.