VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 20.07.2004 - 9 TG 1346/04 - asyl.net: M5527
https://www.asyl.net/rsdb/M5527
Leitsatz:

Die Rechtskraft eines gegen eine Gemeinde wegen ihres Tätigwerdens im übertragenen Wirkungskreis ergangenen Anfechtungsurteils bindet auch das Land, das der Gemeinde die jeweilige Aufgabe der Landesverwaltung übertragen hat (vorgehend: VG Kassel, B. v. 21.04.2004 - 4 G 311/04 -). (amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Marokkaner, Psychische Erkrankung, Ausweisung, Ermessensausweisung, Regelausweisung, Sozialhilfebezug, Aufenthaltserlaubnis, Unbefristete Aufenthaltserlaubnis, Urteil, Bindungswirkung, Gemeinde, Bundesländer, Übertragener Wirkungskreis, Prozessstandschaft, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: AuslG § 26 Abs. 1; AuslG § 26 Abs. 4; AuslG § 45 Abs. 2 Nr. 1; VwGO § 121
Auszüge:

Die vom Antragsteller verfügte Ausweisung leidet an einem Ermessensfehler, denn bei der Abwägung der mit der Ausweisung verfolgten öffentlichen Zwecke mit den persönlichen Belangen des Antragstellers hat der Antragsgegner den Gesichtspunkt, dass der Antragsteller zum durch § 26 Abs. 1 AuslG privilegierten Personenkreis zählt und das Integrationserfordernis der Unterhaltssicherung aus eigener Erwerbstätigkeit für ihn gemäß § 26 Abs. 4 AuslG keine Geltung beansprucht, nicht berücksichtigt.

Die von einer eigenständigen Unterhaltssicherung unabhängige Anspruchsberechtigung des Antragstellers nach § 26 Abs. 1 und 4 AuslG steht - bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 22. Februar 2002 - zwischen dem Antragsteller und dem Antragsgegner aufgrund des Urteils des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 18. März 2004 - 7 E 782/02 (V) - rechtskräftig fest.

Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger.

In sachlicher Hinsicht wird durch das den ablehnenden Bescheid der Stadt B-Stadt in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Darmstadt aufhebende Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main festgestellt, dass die erfolgte Versagung einer Aufenthaltserlaubnis gegenüber dem Antragsteller fehlerhaft war, weil dieser zum durch § 26 Abs. 1 und 4 AuslG begünstigten Personenkreis zählt. Die Rechtskraftwirkung dieses stattgebenden Anfechtungsurteils erstreckt sich auf die Anspruchsberechtigung des Antragstellers aus § 26 Abs. 1 und 4 AuslG als tragenden Grund der Entscheidung (vgl. zum sachlichen Umfang der Rechtskraft des stattgebenden Anfechtungsurteils: BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1992 - BVerwG 1 C 12.92 -, NVwZ 1993,672 673; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, § 121 Rdnr. 21).

In persönlicher Hinsicht bindet die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main nicht nur die Stadt B-Stadt als die Trägerin der im Zeitpunkt der Widerspruchs Entscheidung des Regierungspräsidiums Darmstadt örtlich zuständigen Ausländerbehörde und den Antragsteller als die Hauptbeteiligten des Anfechtungsprozesses, sondern auch den Antragsgegner als den Träger der jetzt örtlich zuständigen Ausländerbehörde. Die - im Ergebnis unstreitige - Erstreckung der Bindungswirkung eines gegen eine Gemeinde wegen ihres Tätigwerdens im übertragenen Wirkungskreis ergangenen Anfechtungsurteils auf das Land, das der Gemeinde die jeweilige Aufgabe der Landesverwaltung übertragen hat, wird unterschiedlich begründet. Vielfach wird bereits aus der grundsätzlichen prozessrechtlichen Einheit von Ausgangsverwaltungsakt und Widerspruchsbescheid (§ 79 Abs. 1 Nr.1 VwGO) gefolgert, dass - auch wenn nur die Ausgangsbehörde bzw. deren Träger Prozessbeteiligter ist - die Rechtskraft die Widerspruchsbehörde bzw. deren Träger bindet (vgl. Kuntze in: Bader, VwGO, 2., Aufl. 2002, § 121 Rdnr. 9; Eyermann/Rennert, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 121 Rdnr. 38; Redeker/von ; Oertzen, 13. Aufl. 2000, § 121 Rdnr. 6a). Für den verfassungsrechtlichen Regelfall der Ausführung von Bundesgesetzen - hier des Ausländergesetzes - durch die Länder als eigene Angelegenheit nach Art. 83, 84 GG tritt hinzu, dass bei landesrechtlicher Übertragung einer solchen Aufgabe auf die Kommunen bzw. auf kommunale Organe diese eine Aufgabe der Landesverwaltung wahrnehmen und demgemäß der Fachaufsicht des Landes unterliegen. Dies rechtfertigt es - entsprechend der Rechtslage beim weisungsabhängigen Tätigwerden eines Landes bei der Auftragsverwaltung nach Art. 85 GG für den Bund (vgl. zu ihr: BVerwG, Beschluss vom 9. Januar 1999 - BVerwG 11 C 8.97 -, NVwZ 1999, 296) - die BeteiligtensteIlung der Gemeinde in Prozessen, die ihre Aufgabenwahrnehmung im übertragenen Wirkungskreis betreffen, als Form der Prozessstandschaft für das Land anzusehen und folglich die Rechtskraft auf das Land auszudehnen (vgl. Eyermann/Renner, VwGO, a. a. O.).

Die Aufgaben der Ausländerbehörde nahm die gegenüber dem Antragsteller tätig gewordene Oberbürgermeisterin der Stadt B-Stadt als allgemeine Ordnungsbehörde wahr (§ 85 Abs. 1 Nr. 3, 2. Fall HSOG i. V. m. § 1 der Verordnung über die Zuständigkeit der Ausländerbehörden vom 21. Juni 1993 GVBI. I S. 260); die Einbindung der Ausländerbehörde der Stadt B-Stadt in den staatlichen Weisungszug des Antragsgegners folgt aus § 87 Abs. 1 HSOG, der Weisungen für den Einzelfall vorsieht.